Derzeit gibt es dringende Bemühungen von Bund und Ländern, die hohen Anforderungen, die sich für einige Kommunen bei der Inobhutnahme und Gestaltung von Anschlussleistungen der Kinder- und Jugendhilfe aus den gestiegenen Zahlen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ergeben, durch ein System der bundesweiten und landesinternen Umverteilung dieser jungen Menschen zu beantworten.
Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen und in Erweiterung ihrer Stellungnahme vom 18.11.2014 schlägt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ein anderes System der Zuständigkeit und Kostenerstattung vor, um durch den Auf- und Ausbau von Kompetenzzentren für Schutz, Förderung und Beteiligung der jungen Flüchtlinge die Wahrung ihrer Rechte sicherzustellen.[1]
Die gegenwärtige Situation:
Die Zahlen in Obhut genommener unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge steigen derzeit ebenso wie die Zahl ihrer Anträge auf Asyl.
Diese steigende Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ballt sich in einigen Regionen und (Groß-)Städten[2], darunter die drei Stadtstaaten.
Die meisten Kommunen in Deutschland sind allerdings von den aufgeworfenen Problemen der Akutversorgung und längerfristigen Hilfegewährung bisher überhaupt nicht berührt.
Für die betroffenen Kommunen haben die Anforderungen, die sich aus hohen Zahlen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ergeben, verschiedene Dimensionen:
- Die Vorhaltung geeigneter Inobhutnahmestellen
- Die Sicherstellung angemessener Anschlusshilfen
- Die Gewährleistung kompetenter Vormundschaften und Ergänzungs-pflegschaften
- Die Erschließung geeigneter Immobilien
- Die Gewinnung von geeigneten Fachkräften
- Die Gewinnung geeigneter Dolmetscher
- Die Schaffung nötiger Ressourcen in den ASD
- Die Bereitstellung geeigneter Schul- und Ausbildungsangebote
und auch:
- Die Aufbringung der für all dies notwendigen Mittel.
Es ist nachvollziehbar, dass diese Anforderungen und Herausforderungen die wenigen Städte, die diese Lasten bisher überwiegend zu tragen haben, teilweise an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen können.
Aus der Perspektive der jungen Flüchtlinge kommt es darauf an, dass sie nach oft langen und strapaziösen Fluchtwegen und sehr belastenden Erfahrungen vor und während der Flucht, zunächst einmal ein Willkommen, unmittelbar wirkenden Schutz und die vielfältigen Unterstützungen erhalten, die sie brauchen, um sich in der völlig neuen Lebenssituation sozial, sprachlich, rechtlich und in Bezug auf ihre Herkunft und Zukunft zurecht finden.
Deshalb brauchen diese jungen Menschen Zuverlässigkeit von Schutz, Förderung und Beteiligung und die Chance neue Netzwerkressourcen aufzubauen.
Diese Ziele können aus unserer Sicht nicht erreicht werden, wenn unbegleitete junge Flüchtlinge nach Ankunft möglichst schnell wieder verlegt und auf alle Landkreise nach schematisch-mathematischen Maßstäben verteilt werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ist deshalb der Auffassung, dass die Handlungsfähigkeit der Städte, in denen die jungen Flüchtlinge vor allem ankommen, erhalten bzw. wiedergewonnen werden muss. Sie wendet sich aber gegen ein mechanisches Umverteilungssystem der jungen Flüchtlinge zwischen den Ländern und in den Ländern. Aus diesem Grund schlägt sie eine neue sachliche Zuständigkeit für Inobhutnahmen und Anschlusshilfen junger unbegleiteter Flüchtlinge vor.
Das System der grundlegenden Zuständigkeit der örtlichen Träger der Jugendhilfe für die Leistungen und anderen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, das mit dem SGB VIII 1989 eingeführt wurde, hat nach wie vor seine Berechtigung. Es beendete die Situation, dass junge Menschen stigmatisiert wurden, um die Zuständigkeit eines anderen Kostenträgers (der Landesjugendämter) zu erreichen.
Aufgrund der geänderten Situation im Hinblick auf die jungen Flüchtlinge, die in großer Zahl in wenigen Städten ankommen, erscheint eine grundsätzliche Verlagerung der sachlichen Zuständigkeit auf den überörtlichen Träger sinnvoll. Das kann durch eine Erweiterung von § 85 Abs. 2 SGB VIII um einen Punkt „11. Die Wahrnehmung anderer Aufgaben und die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch für ausländische Kinder und Jugendliche, die unbegleitet nach Deutschland kommen, und deren Personensorge- oder Erziehungsberechtigte sich nicht in Deutschland aufhalten.“ erfolgen.
Die Landesjugendämter haben dann nach § 69 Abs. 4 SGB VIII auch die Möglichkeit, zur Durchführung dieser Aufgabe gemeinsame Einrichtungen und Dienste zu errichten – etwa die Stadtstaaten mit dem Umland eines Flächenstaates. Zur Schaffung der Kompetenzzentren müssen die überörtlichen Träger dann mit einigen örtlichen Trägern Leistungs- und Entgeltvereinbarungen treffen, die neben den Kosten für die unmittelbaren Maßnahmen auch die Kosten für die oben beschriebenen notwendigen Dimensionen eines Kompetenzzentrums umfassen.
Zugleich muss ein bundesweites System eines fairen – d.h. insbesondere eben auch die Overhead- und Infrastrukturkosten berücksichtigenden - Ausgleichs der finanziellen Belastungen der überörtlichen Träger zwischen Bund und Länderngeschaffen werden, das an die Stelle der bisherigen komplizierten und im Ergebnis völlig unbefriedigenden Kostenerstattungsregelungen des § 89 d SGB VIII treten muss.
Die Landesjugendämter können dann regionale Kompetenzzentren schaffen, die die notwendige Infrastruktur für die Gewährleistung der Schutz-, Förderungs- und Beteiligungsrechte der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gemäß den Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention und den Standards des SGB VIII gewährleisten.
Durch eine solche Regelung kann vermieden werden, dass die jungen Menschen auf einen der über 600 Jugendamtsbezirke verteilt werden, von denen die weit überwiegende Mehrheit bisher keinerlei Erfahrungen im Umgang mit jungen unbegleiteten Flüchtlingen und ihren Bedürfnissen und Bedarfen haben.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sieht es als dringend geboten an, dass alle Beteiligten diesen Vorschlag ernsthaft prüfen und über seine Umsetzbarkeit diskutieren. Sie behält sich selbstverständlich vor, sich im weiteren Prozess differenziert zu anderen Themen und Problemen zu positionieren.
[1] „Stellungnahme der BAGFW zum Gesetzesantrag des Freistaates Bayern (Bundesratsdrucksache 443/14) und zum Antrag des Freistaates Bayern (Bundesratsdrucksache 444/14) vom 30.09.2014“
[2] 2013 waren die zugangsstärksten Städte: Köln (559), Frankfurt/M. (553), Berlin (491), Hamburg (485), München (461), Gießen (256), Düsseldorf (221), Bremen (210) und Saarbrücken (210)