Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung des Vergaberechts

Die BAGFW vertritt als Dachorganisation der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege die Belange von gemeinnützigen Trägern sozialer Arbeit. Unsere Mitglieder und Mitgliedseinrichtungen sind in allen Feldern der sozialen Arbeit tätig.

Die BAGFW vertritt als Dachorganisation der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege die Belange von gemeinnützigen Trägern sozialer Arbeit. Unsere Mitglieder und Mitgliedseinrichtungen sind in allen Feldern der sozialen Arbeit tätig. Damit fließt bei der BAGFW ein vielfältiges Erfahrungswissen zusammen: dies umfasst sowohl die Erfahrungen mit den im Bereich sozialer Arbeit stattfindenden Ausschreibungen als auch Erfahrungen mit alternativen Wettbewerbsmodellen, deren Existenz das Legislativ-Paket der EU ausdrücklich anerkennt. Ihre Erfahrungen und Einschätzungen der gegenwärtigen Lage teilt die BAGFW mit einem breiten Bündnis aus Verbänden, Anbietern von Arbeitsmarktdienstleistern und den Gewerkschaften (u. a. dem DGB, der GEW und ver.di). Gemeinsam sehen wir die Vergaberechtsreform als einen grundsätzlich tragfähigen Ansatzpunkt, um bestehende Qualitätsdefizite bei der Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen zu überwinden. Gemeinsam setzen wir uns dafür ein, mit Hilfe der Neuregelung eine einseitige Dominanz des Preiskriteriums bei Vergabeprozessen im Sozialbereich zu vermeiden und damit den Qualitätswettbewerb zu befördern.

 

Für das Gesetzgebungsvorhaben halten wir vor allem folgende Punkte für wichtig, die Beachtung und Eingang in das neu gefasste GWB finden müssen:

 

·         Klarstellungen zum Anwendungsbereich des Vergaberechts

·         Ausnutzen der Gestaltungsspielräume der EU-Richtlinien

·         Absicherung eines Qualitätswettbewerbes

 

I.          Allgemein

 

1.         Charakteristika und Rahmenbedingungen sozialer Dienstleistungen

 

Soziale Dienstleistungen heben sich von anderen Dienstleistungen dadurch ab, dass sie ihre Wirkung erst im Zusammenspiel zwischen dem Personal des sozialen Dienstleisters und dem Klienten/der Klientin entfalten (sog. Koproduktion sozialer Dienstleistungen). Entsprechend muss bei der Definition und Beschreibung dieser Leistungen stets ein Spielraum bleiben, der es erlaubt, die Leistung den Bedürfnissen anzupassen, die die Klienten/Klientinnen im Einzelfall haben. Diese methodisch zwingende Offenheit von sozialen Dienstleistungen setzt der Standardisierung und engmaschigen Definition von Dienstleistungen enge Grenzen.

 

Soziale Arbeit ist stets personenbezogene Beziehungsarbeit, die von den Mitarbeitenden des sozialen Dienstleisters hohe Fachkompetenz und ausreichende Erfahrung verlangt. Vor diesem Hintergrund hängt die Qualität der Gesamtleistung wesentlich von denjenigen ab, die die Leistungen tatsächlich ausführen, also dem „mit der Ausführung … beauftragten Personal(s)“ (vgl. Artikel 67 Abs. 2 lit. b EU-Vergaberichtlinie). Eine hohe Fluktuation von Beschäftigungsverhältnissen beeinträchtigt den Erfolg dieser Arbeit, da sie eine ständige erhebliche Unruhe in die jeweilige Beziehungsarbeit trägt. Ungeachtet der Qualifikation der jeweiligen Mitarbeitenden stellt eine solche Instabilität auch den Erfolg der Arbeit mit den Klientinnen/Klienten in Frage. Damit ist auch die verlässliche Verfügbarkeit von qualifizierten Mitarbeitenden eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der fachlich benötigten Beziehungsarbeit.

 

Dass der vorgelegte Entwurf es bei der Definition von Leistung, Eignungs- und Zuschlagskriterien ebenso wie bei der Ausformulierung von Ausführungsbedingungen ermöglicht, qualitative, soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte einzubeziehen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dies schafft, wenn die maßgeblichen Auftraggeber diese Impulse aufgreifen, einen guten Ansatzpunkt, um den Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen Rechnung zu tagen.

 

Eine weitere Besonderheit der sozialen Dienstleistungen ist, dass in diesem Bereich viele gemeinnützige Anbieter tätig sind, die sich tariflich gebunden oder satzungsrechtlich verpflichtet haben, ihren Mitarbeitenden eine angemessene tariflich oder im Wege des kirchlichen Arbeitsrechts festgelegte Vergütung zu zahlen. Allerdings reichen derzeit weder der seit 2015 geltende allgemeine Mindestlohn noch der besondere Mindestlohn für den Weiterbildungsbereich aus, die über eine solche Bindung entstehenden Personalkosten abzudecken. Damit entsteht der für die Anbieter unzumutbare Widerspruch, dass zwar die Einhaltung dieser Selbstverpflichtung rechtlich gefordert ist und deren Verletzung zum Ausschluss vom Vergabeverfahren führen kann (§ 124 Abs.1 Nr. 1 GWB-E), gleichzeitig aber die EuGH-Rechtsprechung zur Tarifbindung es den Bietern unmöglich macht, die zu leistenden Tarife refinanziert zu bekommen.

 

Während es mit dem 1. Pflegestärkungsgesetz vom 17.12.2014 gelungen ist, einen vergleichbaren Widerspruch im Pflegerecht aufzuheben und die Selbstverpflichtung zur Zahlung von Tariflöhnen als maßgeblicher Gesichtspunkt für die Refinanzierung anerkannt ist (s. § 84 Abs. 2 Satz 5 SGB XI), besteht der Widerspruch im Vergaberecht fort. Als solcher stellt er eine existenzgefährdende und verfassungsrechtlich fragwürdige Belastung der Anbieter dar. Ein Verhalten kann nicht einerseits verfassungsrechtlich sogar mit einer Drittwirkung der Tariffreiheit geschützt sein, um im Kontext der Finanzierung, also in dem für die wirtschaftliche Existenz ausschlaggebenden Aspekt, als rechtlich unbeachtlich behandelt zu werden. Die BAGFW fordert deshalb den Gesetzgeber auf,

 

•      dem Leerlauf der verfassungsrechtlich sowohl mit Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz als auch dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht abgesicherten Garantien Einhalt zu gebieten,

•      nicht weiterhin zuzulassen, dass dieser Konflikt zwischen der EuGH-Rechtsprechung und dem innerdeutschen Verfassungsrecht einseitig zulasten der tariflich gebundenen Arbeitgeber unentschieden bleibt und deshalb

•      ähnlich wie in § 84 Abs. 2 Satz 5 SGB XI eine angemessene Lösung für dieses Problem zu finden und eine Refinanzierung der auf der Grundlage von Tarifverträgen bzw. kirchlichem Arbeitsrecht eingegangenen Tarifbindungen sicherzustellen.

 

Die Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen ist von einer starken Abhängigkeit der Bieter von den Auftraggebern geprägt, die einem Nachfragemonopol gleichkommt. Die Praxis der Bundesagentur für Arbeit, den größten Teil der Ausschreibungen deutschlandweit in einem einzigen Zeitfenster abzuwickeln, macht es Anbietern nahezu unmöglich, den Misserfolg in einer Bewerbung durch eine erfolgreiche Ausschreibung an anderer Stelle zu kompensieren. Die für den Bereich der Daseinsvorsorge typische Abhängigkeit der Anbieter von den Auftraggebern lässt sich mit den von der Bundes-agentur in Aussicht gestellten längeren Vertragslaufzeiten allenfalls für den erfolgreichen Bieter abmildern. Für die nicht berücksichtigten Bieter hingegen verstärken solche längeren Vertragslaufzeiten die Auswirkungen ihres Misserfolges sogar noch und beschleunigen die Verdrängung der unterlegenen Konkurrenten aus dem Wettbewerb. Eine solche Marktbereinigung wäre selbst unter den Bedingungen eines strengen Qualitätswettbewerbs rechtfertigungsbedürftig. Denn sie stellt das breit aufgestellte Bieterfeld, das Grundlage eines innovativen und qualitätsvollen Wettbewerbs ist, in Frage. Solange der Wettbewerb zudem de facto einseitig vom Preiskriterium dominiert wird, sind die von ihm ausgelösten Verdrängungseffekte in jeder Hinsicht kontraproduktiv.

 

2.         Verhältnis Vergaberecht und Sozialrecht

 

In der Gesamtsumme der Vergabeverfahren nehmen die Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen nur einen geringen Anteil ein. Vor allem kommen diese Verfahren bei den Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem 2. und 3. Buch des Sozialgesetzbuches zur Anwendung. Weitere Anwendungsfälle des Vergaberechts können sich im Rahmen atypischer Formen der Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern ergeben, wenn wegen einer pauschal zu leistenden Finanzierung das Betriebsrisiko nach den in § 106 Abs. 2 GWB-E niedergelegten Kriterien beim öffentlichen Träger verbleibt[1].

 

Vergaberecht ist nur anzuwenden, wenn ein öffentlicher Auftrag vorliegt. Dies ist der Fall, wenn ein Leistungsträger im Rahmen eines entgeltlichen Beschaffungsvorganges unter den konkurrierenden Anbietern einen Anbieter auswählt und mit diesem einen exklusiven Vertrag abschließt.

 

Die BAGFW begrüßt, dass der Gesetzentwurf die im Sozialrecht typischen Zulassungsverfahren an mehreren Stellen der Entwurfsbegründung deutlich vom vergaberechtlichen Wettbewerbsmodell abgrenzt, hält aber eine gesetzliche Klarstellung für erforderlich.

 

Für die Unterwerfung der Zulassungsverträge unter das Vergaberecht besteht auch deshalb kein Bedarf, weil die für das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis typischen Vereinbarungen den Anbietern den Zugang zum Wettbewerb lediglich eröffnen, aber nicht entscheiden. Damit schaffen sie die Voraussetzung dafür, dass im späteren Wettbewerb um die leistungsberechtigen Menschen möglichst viele Angebote zur Wahl stehen. Die Trägerpluralität ist damit gelichzeitig Voraussetzung für einen Wettbewerb wie auch die Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts (vgl. §§ 17 und 33 SGB I). Die Leistungsberechtigten treffen die Auswahlentscheidung für zum Beispiel einen Pflegedienst oder eine Rehabilitationseinrichtung. Den Umfang der zu erbringenden Leistung bestimmt und kontrolliert der Leistungsträger im Rahmen des individuellen Leistungsbescheides.

 

Damit stellt die klassische Organisationsform der sozialrechtlichen Leistungserbringung im Dreiecksverhältnis nach den Abgrenzungsmerkmalen des GWB-E keinen auszuschreibenden Auftrag dar. Die Erwägungsgründe der Konzessionsrichtlinie und in Ziffer 114 der Auftragsrichtlinie bestätigen dies ausdrücklich.

 

3.         Neugestaltung des Vergaberechts maßgeblich im GWB

 

Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die im Gesetzentwurf angelegte neue Struktur des Vergaberechts, die maßgebliche Aussagen im förmlichen, vom Bundestag erlassenen Gesetzesrecht verankert und damit dem Vergaberecht eine deutlich stärkere demokratische Legitimation verschafft.

 

Da die Richtlinienumsetzung allerdings nur für Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte zum Tragen kommt, stellt sich die Frage, ob und wie die Reform und die damit verbundenen Verbesserungen (namentlich die Stärkung des Qualitätswettbewerbs) auch für Verfahren unterhalb der Schwellenwerte zum Tragen kommen können. Ohne eine explizit vorgesehene Übertragbarkeit dieser reformierten Regelungen gelten wie bisher die Vergabeordnungen für Dienst-, Bau- oder freie Leistungen. Jedenfalls für den Bereich der sozialen Dienstleistungen muss gesichert sein, dass für Beschaffungen unterhalb des Schwellenwertes keine strengeren Regelungen (z. B. der Vorrang der öffentlichen Ausschreibung aus § 3 Abs. 2 VOL/A) gelten, sondern im Ergebnis die gleichen Regelungen gelten.

 

Bei aller Zustimmung zum Gesetzentwurf im Ganzen kommt die BAGFW jedoch nicht umhin festzustellen, dass der Gesetzentwurf weder dem eigenen Anspruch, die Richtlinie 1:1 umzusetzen noch den Vorgaben der Vergaberichtlinie gerecht wird.

 

Besonders deutlich wird dies bei der Umsetzung der Artikel 74 ff der Vergaberichtlinie. Diese geht davon aus, dass sozialen Dienstleistungen selbst bei Überschreiten des Schwellenwertes nur eingeschränkte Binnenmarktrelevanz zukommt. Vor diesem Hintergrund sieht es der Gesetzentwurf als gerechtfertigt an, die Anforderungen an deren Ausschreibung so gering wie möglich zu halten. Allerdings verlangt die Richtlinie von den Mitgliedstaaten auch, einen Ausgleich zwischen den wettbewerblichen Belangen von Transparenz und Chancengleichheit auf der einen und den besonderen Belangen im Zusammenhang mit sozialen Dienstleistungen auf der anderen Seite zu schaffen, die Art. 76 Abs. 2 RL 2014/24/EU aufzählt. Die BAGFW ist der Ansicht, dass es dem Sinn der Art. 74 ff am nächsten käme, wenn wesentliche Grundsätze des allgemeinen Vergaberechts hinsichtlich der Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen in einem Sonderregime konkretisiert würden. Damit ließe sich auch die europarechtliche Vorgabe „so viel Vergaberecht wie nötig und so viel Sozialrecht wie möglich“ realisieren.

Der vorliegende Gesetzentwurf wird diesem Anspruch nicht gerecht.

 

Problematisch ist dabei nicht nur, dass der Entwurf das sogenannte Sonderregime auf eine einzige kurze Regelung reduziert. Vor allem bleiben die sozialen Dienstleistungen systematisch in das allgemeine Vergaberecht eingebettet mit wenigen punktuellen Ausnahmen. (Weiteres hierzu unter II.9)

 

Letztlich wird sich erst im Gesamtzusammenhang von Gesetz- und Verordnungsentwurf beurteilen lassen, ob und inwieweit das VergModG und die VgV die ihnen durch die Vergaberichtlinie eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Der aktuelle Entwurf lässt aber eher vermuten, dass Möglichkeiten zu eigenständigen Gestaltungen der Hoffnung auf ein möglichst konfliktfreies Gesetzgebungsverfahren aufgeopfert worden sind.

 

 

Zu einzelnen Vorschriften des Gesetzentwurfs nimmt die BAGFW wie folgt Stellung:

 

II.          Regelungen im Einzelnen

 

1.    § 97 GWB-E – Grundsätze der Vergabe

 

Die ausdrückliche Verankerung des Wirtschaftlichkeitsbegriffs und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Grundsatz des gesamten Vergaberechts in § 97 Abs. 1 GWB-E stellt gegenüber den bisherigen Regelungen einen deutlichen Gewinn dar. Um eine effiziente Beschaffung sicherzustellen, muss das Vergaberecht den Auftraggebern weitgehende Gestaltungsspielräume einräumen. Damit verschaffen sie den Auftraggebern allerdings auch Freiräume, die von der Rechtsprechung nur in begrenztem Umfang kontrollierbar sind. Vor diesem Hintergrund erweitert der Entwurf den Abs. 1 um Maßstäbe für Verfahrensentscheidungen der Auftraggeber, die deren Gestaltungsfreiheit nicht auf bestimmte Ergebnisse festlegen, wohl aber als Kriterien für eine korrekte Ermessensausübung in Betracht kommen. Insbesondere bewirkt die Verankerung der Wirtschaftlichkeit als allgemeinem Maßstab des Vergaberechts, dass sich Wertungsentscheidungen nur noch in begründeten Ausnahmefällen auf bloße Preisvergleiche reduzieren lassen.

 

Im Zusammenhang mit diesen neu verankerten Grundsätzen spricht sich die BAGFW dafür aus, Absatz 6 um eine an § 40 VwVfG bzw. § 39 SGB I angelehnte Regelung zu ergänzen.

 

Obwohl bereits der gegenwärtig in Absatz 6 Satz 1 enthaltene Anspruch auf Einhaltung des Vergaberechts eine Rechtskontrolle ermöglicht, relativieren die vergaberechtstypischen weitgehenden Einschätzungs- und Ermessensspielräume deren Reichweite erheblich. Die nunmehr vorgeschlagene Ermessensregelung zeigt die Grenzen auf, in denen sich die Auftraggeber bei der Ausübung von Ermessensspielräumen bewegen. Zudem ermöglicht sie eine Vergewisserung über deren ordnungsgemäßen Gebrauch. Damit trägt sie dazu bei, den Anspruch der Bieter auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen zu verwirklichen und so die von der Rechtsprechung längst bestätigte umfassende Bindung staatlicher Institutionen an die Grundrechte sowie an Recht und Gesetz aus Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz sicherzustellen[2].

 

Ergänzend zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Abs. 1 schafft diese Ergänzung einen angemessenen Ausgleich zwischen den Verhandlungspositionen der Auftraggeber und der Bieter. Während das in Abs. 1 verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip einseitig übermäßige Belastungen der strukturell unterlegenen Seite verhindert, sichert die Ermessenskontrolle das Willkürverbot. Gerade bei der Umsetzung des wettbewerbsrechtlich ausgerichteten EU-Vergaberechts erscheint die Ermessensregel sinnvoll, um die Rechtsposition der Bieter konsequent zu schützen.

 

Besonders beim „Einkauf“ sozialer Dienstleistungen wird deutlich, dass eine Ermessensentscheidung im Sinne § 39 SGB I vorweg genommen wird. Im Interesse der Leistungsberechtigten muss sie der gleichen Rechtskontrolle unterliegen wie eine unmittelbar an die Leistungsberechtigten gerichtete Entscheidung.

 

Vorschlag:

 

Abs. 6 wird um folgende Sätze ergänzt:

 

„Ist der Auftraggeber ermächtigt, nach seinem Ermessen zu handeln, hat er sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Dies gilt entsprechend, wenn die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs einen Beurteilungsspielraum des öffentlichen Auftraggebers eröffnet.“

 

 

2.         § 103 GWB-E Öffentlicher Auftrag

 

Gegenüber dem Referentenentwurf ist nun in der Begründung klargestellt, dass das Vergaberecht auf Verträge im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nicht anwendbar ist. Bedauerlicherweise wird der einschränkende Begriff sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis benutzt. Die korrekte Bezeichnung lautet sozialrechtliches Dreiecksverhältnis.

 

3.         § 105 GWB-E Konzessionen

 

Die BAGFW begrüßt, dass in der Begründung zu § 105 GWB-E eine klare Abgrenzung zwischen Ausschreibungen und Zulassungsverträgen erfolgt. Wie in der Begründung zu § 103 GWB-E ist auch hier wie folgt zu korrigieren. Die korrekte Bezeichnung lautet sozialrechtliches Dreiecksverhältnis.

 

4.         § 107 GWB-E Allgemeine Ausnahmen

 

Die BAGFW begrüßt die Präzisierung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB-E gegenüber dem Referentenentwurf hinsichtlich der Bereichsausnahme für den Rettungsdienst. Damit wird dem politischen Willen in Deutschland sowie dem Gestaltungszweck des EU-Legislativpakets und damit dem erklärten Willen des EU-Richtliniengebers Rechnung getragen.

 

5.         § 118 GWB-E bevorzugte Auftragsvergabe

 

Die BAGFW begrüßt die Regelung ausdrücklich. Die bevorzugte Auftragsvergabe an diese Unternehmen trägt dem Anliegen der EU-Richtlinie Rechnung, die soziale und berufliche Eingliederung für unterschiedliche Personenkreise, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft benachteiligt sind, zu befördern. Sie leistet damit einen Beitrag zur weiteren Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeit dieser Personengruppen.

 

Auch hier stellt sich jedoch wieder die Frage nach der praktischen Umsetzung dieser Regelung. Solange der Gesetzgeber sich damit begnügt, Impulse zu setzen und deren Verwirklichung dem freien Ermessen der Auftraggeber zu überlassen, sieht die BAGFW die Gefahr, dass die Vergaberechtsreform in diesem wichtigen Punkt über Absichtserklärungen nicht hinausgeht und es Auftraggebern ermöglicht, ihre bisherige Beschaffungspolitik fortzusetzen. Der deutsche Gesetzgeber sollte deshalb seinen Gestaltungsspielraum zur Umsetzung der EU-Richtlinie nutzen und die öffentlichen Auftraggeber verpflichten, regelmäßig vorbehaltene Aufträge zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen zu vergeben.

 

6.         § 121 GWB-E Barrierefreiheit

 

Die BAGFW hält die Bestimmung des gegenüber dem Referentenentwurf neu eingefügten Abs. 2 grundsätzlich für sinnvoll, wonach die Anforderungen an eine barrierefreie Ausgestaltung der nachgefragten Leistung „außer in ordnungsgemäß begründeten Fällen“ bereits in der Leistungsbeschreibung zu verankern sind.

 

Allerdings bedarf die Umsetzung dieser Regelung in den einzelnen Leistungsbeschreibungen unbedingt einer Konkretisierung dieser Anforderungen. Es ist wichtig, an dieser Stelle deutlich zu machen, welche konkreten Zugangshindernisse sich aus dem Auftragszuschnitt für künftige Nutzerinnen und Nutzer ergeben können und wie diese behoben werden sollen. Gerade diese Aspekte einer Leistungserbringung sollten sinnvollerweise im Rahmen von Verhandlungsverfahren erörtert werden.

 

Demgegenüber wäre eine unmodifizierte Verpflichtung zur Umsetzung der Barrierefreiheit als weder mit dem in § 97 Abs. 1 GWB verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch mit der Anforderung vereinbar, dass die Anforderung an die Leistungen und die Auftragsausführung einen Bezug zum Auftrag aufweisen müssen. Für Aspekte der Barrierefreiheit, die sich nicht aus dem Auftrag ableiten lassen und deshalb auch nicht Gegenstand der Leistungsbeschreibung werden können, müssen die Träger von sozialen Dienstleistungen realistische Umsetzungsfristen eingeräumt bekommen.

 

Die BAGFW hält eine entsprechende Erläuterung in der Begründung für unerlässlich. Ansonsten lässt gerade das ausdrückliche Begründungserfordernis befürchten, dass die Auftraggeber es bei einer allgemeinen Maximalforderung belassen und die Belastung mit deren sinnvoller Umsetzung in unangemessener Weise auf die Bieter abwälzen.

 

7.         § 124 GWB-E Ausschlussgründe

 

Die BAGFW begrüßt es ausdrücklich, dass nach § 124 Abs. 1 Nr. 1 Verstöße gegen das Umwelt-, Arbeits- und Sozialrecht zum Ausschluss von unzuverlässigen Bietern führen können und es so jedenfalls erlaubt ist, für die Zukunft Konsequenzen aus einer früheren Fehlentscheidung zu ziehen. An dieser Stelle begrüßt die BAGFW auch die Klarstellung dazu, welche Arbeitsrechtsregelungen im Zusammenhang mit Nr. 1 maßgeblich sein können. Gerade angesichts der Bedeutung, die der EuGH-Rechtsprechung zu vergabespezifischen Mindestlöhnen beigemessen wird, erscheint es wichtig, die Bedeutung von „einfachen“ Arbeitsrechtsregelungen zu stärken. Die BAGFW bittet darum, in diesem Zusammenhang auch das kirchliche Arbeitsrecht zu erwähnen, dessen Vorgaben für die Mitgliedseinrichtungen der Diakonie und der Caritas nicht minder verbindlich sind als die Bestimmungen eines Tarifvertrages.

 

Allerdings stellt sich die Frage, weshalb der Gesetzgeber nicht von seiner Möglichkeit Gebrauch macht, Verstöße gegen das Umwelt-, Arbeits- und Sozialrecht nach Nr. 1 als zwingenden Ausschlussgrund zu behandeln. Art. 57 IV a) Richtlinie 2014/24/EU hätte eine solche Regelung mitgetragen, wobei es den Mitgliedsstaaten überlassen geblieben wäre, die Anforderungen an den geeigneten Nachweis eines solchen Verstoßes festzulegen. § 123 GWB-E wäre ein geeigneter Kontext für einen solchen Ausschlussgrund.

 

Die höchst preis- und qualitätssensiblen Wettbewerbsbedingungen bei den sozialen Dienstleistungen, insbesondere Arbeitsmarktdienstleistungen, brauchen das zusätzliche Korrektiv einer effektiven Preiskontrolle. So bedarf die in Artikel 69 Abs. 3 der Vergaberichtlinie geregelte Nachprüfung von auffällig niedrigen Angeboten und der Ausschluss von nicht hinreichend erläuterten Angeboten einer Rechtsgrundlage im GWB. Die Kontrolle ungewöhnlich niedriger Angebote ist ein wichtiger Bestandteil der Angebotsprüfung. Denn sie indiziert, ob der Bieter gesetzliche und tarifliche Regelungen zu Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen einhält. Nur durch eine solche strenge Prüfpflicht kann verhindert werden, dass sich Bieter unter Umgehung der verbindlichen Arbeitsbedingungen Aufträge erschleichen.

 

8.         § 127 GWB-E Zuschlag

 

Die BAGFW begrüßt, dass Abs. 1 die Relevanz des Wirtschaftlichkeitskriteriums für die Zuschlagsentscheidung und die Notwendigkeit einer Preis-Leistungs-Relation deutlich heraushebt und klarstellt. Der Entwurf stellt damit klar, dass der Preis oder die Kosten grundsätzlich nicht der einzige Wertungsgesichtspunkt sein dürfen.

 

 

9.         § 130 GWB-E Ausschreibung von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen

 

Verglichen mit den in Art. 76 der Vergaberichtlinie enthaltenen weitgehenden Gestaltungsspielräumen für die Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen verfolgt der Gesetzentwurf mit der Einbettung des § 130 GWB-E in das allgemeine Vergaberecht genau den umgekehrten Ansatz und reduziert die Umsetzung von Artikel 76 auf einige wenige punktuelle Ausnahmen vom allgemeinen Vergaberecht.

 

Aus unserer Sicht ist die in § 113 Nr. 5 GWB-E aufgenommene Ermächtigung ungenügend, die für die nähere Ausgestaltung des Sonderregimes für soziale Dienstleistungen auf die Vergabeverordnung verweist. Vielmehr fehlen wesentliche Aspekte der Umsetzung des Art.76 Abs. 2 der Vergaberichtlinie, die der parlamentarische Gesetzgeber selbst zu bestimmen hat.

 

Selbst wenn die Spielräume des allgemeinen Vergaberechts in der Theorie weitgehende Möglichkeiten zu Einzelfall-Gestaltungen lassen, fehlt es an verbindlichen Impulsen, diese Freiräume auch zu nutzen. Wir schlagen vor, dass der Entwurf den Artikel 76 Abs. 2 der Vergaberichtlinie im Wortlaut übernimmt. Dies würde den Rechtsanwender dafür sensibilisieren, dass es eines Ausgleichs zwischen den formalen Anforderungen des Vergaberechts und den Zielen des Sozialrechts bedarf.

 

Zur Umsetzung der Vergaberichtlinie reicht es nach Ansicht der BAGFW nicht aus, im Gesetz und in der Vergabeverordnung punktuelle Ausnahmen vom allgemeinen Vergaberecht zu verankern. Dem formellen Parlamentsgesetz kommt vielmehr eine Leitfunktion zu, der der Entwurf nicht gerecht wird. Gerade wenn der Entwurf eine 1:1-Umsetzung der Richtlinie anstrebt, hätte er die Übernahme von Artikel 76 Abs. 2 der Vergaberichtlinie vorsehen müssen.

 

Soweit Vergaberecht überhaupt zur Anwendung kommt, müssen der Gesetzgeber und jeder einzelne Auftraggeber sicherstellen, dass sozialverträgliche Gestaltungen hinreichend zum Tragen kommen. Der Gesetzgeber sollte einen allein von Preisaspekten dominierten Unterbietungs- und Verdrängungswettbewerb verhindern. Im 10. Jahr seit Anwendung des Vergaberechts auf Arbeitsmarktdienstleistungen sieht die BAGFW den Gesetzgeber ebenso wie die zuständigen Aufsichtsbehörden der Auftrag gebenden Leistungsträger in der Verantwortung, mit den neuen Gestaltungsmitteln des Vergaberechts die Folgen eines kontraproduktiven, Qualitätsaspekte vernachlässigenden Preiswettbewerbs für Anbieter und Nutzer der Leistungen zu begrenzen. Besondere Berücksichtigung muss deshalb zukünftig bei der Erteilung des Zuschlags die angebotene Qualität der sozialen Dienstleistungen erlangen. Die BAGFW fordert, im Vergabeverfahren die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität abzubilden.

 

Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Freigabe nahezu aller Verfahrensarten hält die BAGFW für sehr wichtig. Der Gesetzentwurf bietet eine gute Grundlage, um zukünftig eine größere Vielfalt von Vergabeverfahren und damit mehr Passgenauigkeit beim Einkauf zu ermöglichen. Entscheidend wird sein, dass Auftraggeber wie die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter die sich neu eröffnenden Möglichkeiten auch tatsächlich nutzen. Im Sinne einer stärkeren Einbeziehung der Bedürfnisse der Teilnehmenden bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen können z. B. im Verlaufe eines dialogischen Vergabeverfahrens Bedarfe der Teilnehmenden sowie besondere methodische Kompetenzen der Träger schon bei der Auftragsformulierung berücksichtigt werden. Das nicht offene Verfahren sollte etwa genutzt werden, um kurzfristig auftretende bzw. bekannt gewordene Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zu decken oder im Rahmen des Teilnahmewettbewerbs eine qualitative Vorauswahl der Angebote vorzunehmen.

 

Das Sozialrecht ist geprägt vom Subsidiaritätsprinzip. Das heißt, die Leistungserbringung durch Private hat Vorrang vor der Eigenerbringung durch die öffentliche Hand. Dieser Grundsatz darf nicht durch Nutzung der erweiterten Möglichkeiten des § 108 GWB-E unterlaufen werden.

 

Erfreulicherweise wird an geeigneten Stellen der Entwurfsbegründung darauf hingewiesen, dass Zulassungsverträge im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nicht unter das Vergaberecht fallen. Allerdings gibt es – weniger mit dem Blick auf den Wettbewerb als vielmehr mit dem Ziel, gemeinnützige Anbieter zu verdrängen - ordnungspolitischen Widerspruch gegen diese Bewertung; so beispielsweise von der Monopolkommission im XX. Hauptgutachten 2014 zum Jugendhilferecht des Sozialgesetzbuchs VIII. Um diese Diskussion zu beenden und um die in Artikel 1 Absatz 5 der Vergaberichtlinie ausdrücklich anerkannte Vielfalt an Modellen der Leistungserbringung abzusichern, fordert die BAGFW eine gesetzliche Verankerung des sachgerechten und bewährten Modells des Wettbewerbs im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis.

 

Nachfolgend wird ein Formulierungsvorschlag zu § 130 GWB-E unterbreitet. Erwägenswert ist auch eine Verortung in § 103 GWB-E.

 

Vorschlag:

 

Die bisher in § 130 GWB-E getroffene Regelung wird zu § 130 Abs. 2 GWB-E. Ihr wird folgender Abs. 1 vorangestellt:

 

(1) „Bei der Ausschreibung von Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EG tragen die öffentlichen Auftraggeber der Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen, sowie den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation Rechnung.“

 

Nach Absatz 2 werden folgende Absätze 3 bis 5 eingefügt:

 

(3) „Die Bestimmung des aus der Sicht des öffentlichen Auftraggebers wirtschaftlich günstigsten Angebots erfolgt anhand einer Bewertung auf der Grundlage des Preises oder der Kosten, mittels eines Kosten-Wirksamkeits-Ansatzes (zum Beispiel der Lebenszykluskostenrechnung). Bei Leistungen im Sinne von Abs. 1 beinhaltet diese Bestimmung das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, das auf der Grundlage von Kriterien — unter Einbeziehung qualitativer und/oder sozialer Aspekte — bewertet wird, die mit dem Auftragsgegenstand des betreffenden öffentlichen Auftrags in Verbindung stehen. Zu diesen Kriterien gehören Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität.“

 

(4) „Vor einer Zusammenarbeit im Sinne des § 108 zur Erbringung sozialer Dienstleistungen prüfen die Partner, ob in ihrem Zuständigkeitsbereich geeignete Einrichtungen und Dienste Dritter vorhanden sind, ausgebaut oder in Kürze geschaffen werden können.“

 

(5) „Die nicht entgeltlichen Zulassungsverträge nach Maßgabe des Sozialgesetzbuchs unterfallen nicht diesem Gesetz.“



[1] So insb. OLG Hamburg Beschluss vom 8.7.2008, 1 Verg 1/08)

[2] So OLG Brandenburg NVwZ 1999, 1142, 1146, VK Bund NJW 2000, 151, 153; BVerfGE 116, 135; s. zusammenfassend mit entsprechendem Regelungsvorschlag Robin Ricken in Beurteilungsspielräume und Ermessen im Vergaberecht – Zur Dogmatik der Entscheidungsspielräume öffentlicher Auftraggeber, 2014, S 210, 263 bis 266