Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege haben den Reformprozess des europäischen und in der Folge des deutschen Vergaberechts intensiv begleitet. Mit der Vergaberechtsmodernisierungsverordnung soll dieser Prozess abgeschlossen werden. Insgesamt wird der Reformprozess als gelungen betrachtet. Es gibt jedoch noch Änderungsbedarf an der Verordnung.
Zum Anwendungsbereich
Im Sozialrecht werden Leistungen typischerweise im sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis erbracht. In der Begründung zu § 1 Absatz 1 VgV-E wird ausgeführt, dass das sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis (als eine Fallkonstellation im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis) nicht dem Vergaberecht unterliege, dass jedoch in anderen Bereichen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses Vergaberecht anwendbar sein könne. Die Ausführungen lassen die nötige Klarheit vermissen.
Es ist auch für uns unstreitig, dass im Bereich des SGB III weitgehend Vergaberecht zum Tragen kommt. Die Wohlfahrtsverbände stimmen mit den Ausführungen der Verordnung auch darin überein, dass maßgeblich für die Anwendung des Vergaberechts die Erteilung eines öffentlichen Auftrags ist, bei dem ein öffentlicher Auftraggeber eine Auswahlentscheidung zugunsten eines Leistungserbringers trifft, der die Leistungen im Auftrag und gegen Entgelt erbringt. Entscheidend für die Anwendung des Vergaberechts im Bereich sozialer Dienstleistungen ist demnach, ob der jeweilige Sozialleistungsträger verpflichtet oder befugt ist, eine Auswahlentscheidung unter Erbringern von Sozialleistungen zu treffen. Angesichts der in den verschiedenen Sozialgesetzbüchern normierten Zulassungssysteme kombiniert mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten – vergleiche auch § 33 SGB I – stellt eine solche Auswahlentscheidung im Sozialrecht die Ausnahme dar. Im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis kommt sie nicht vor. Denn von ihm spricht man nach vorherrschender Rechtsauffassung immer nur dann, wenn Leistungserbringer aufgrund bestimmter fachlicher Kriterien zum Markt zugelassen werden, der Leistungsträger aber weder eine Auslastungsgarantie gibt noch eine Auswahl unter potentiellen Leistungserbringern vornimmt (selektiert). Der Leistungsberechtigte wählt zwischen zugelassenen Leistungserbringern aus und macht insofern sein Wunsch- und Wahlrecht geltend.
Die Diskussion im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages wie auch die Begründung zu § 1 der Verordnung belegen die bestehende Rechtsunsicherheit zu dieser Frage. Auch die Monopolkommission geht in ihrem XX. Hauptgutachten irrtümlich davon aus, dass künftig Leistungen der Jugendhilfe auszuschreiben seien (Seite 156, RZ 357). Sie ignoriert, dass Förderungen nach § 74 SGB VIII und Leistungsvereinbarungen nach § 78c SGB VIII nicht zu Aufträgen im Sinne § 97 GWB führen und deshalb nicht dem Vergaberecht unterliegen. Dass das Vergaberecht bei der bloßen Finanzierung von Dienstleistungen und bei Zulassungssystemen ohne Selektivität nicht anwendbar ist, steht auch in den Erwägungsgründen (4) und (116) der Richtlinie 24/2014/EU.
§ 1 Abs. 2 der Verordnung ist deshalb um eine Ziffer 4 und eine Ziffer 5 zu erweitern:
„4. die bloße Finanzierung von Dienstleistungen durch Zuwendungen,
5. den Abschluss von Leistungsvereinbarungen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis.“
Zu § 64 VgV-E
Bezüglich der sozialen Dienstleistungen legt der europäische Richtliniengeber großen Wert auf eine gute Leistungsqualität. Leider ist die Vorgabe des Art. 76 Abs. 2 der Auftrags-Richtlinie bisher weder im GWB noch im Entwurf der Verordnung verankert worden. Wir halten deshalb die Erweiterung des § 64 VgV-E um einen Absatz 2 für zwingend:
„Die Auftraggeber gewährleisten, dass Notwendigkeit, Qualität, Kontinuität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit der Dienstleistungen sichergestellt werden. Den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzerkategorien, einschließlich benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen, der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer und dem Aspekt der Innovation ist Rechnung zu tragen. Die Auswahl der Dienstleister darf auch auf der Grundlage des Angebots mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis unter Berücksichtigung von Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien getroffen werden.“
Diese Anforderungen der EU-Richtlinie müssen verbindliches ermessensleitendes Recht werden. Die Erwähnung in der Begründung erscheint hierfür unzureichend.
Zu § 65 VgV-E
Absatz 1 enthält eine erfreulich hohe Wahlfreiheit des Auftraggebers zwischen den verschiedenen Vergabeinstrumenten. Zur Vermeidung von Missverständnissen sollte allerdings verdeutlicht werden, dass eine vorhandene Kofinanzierung zugunsten eines Bieters berücksichtigt werden darf. Absatz 1 sollte insoweit ergänzt werden:
„Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb steht auch zur Verfügung,
soweit dies notwendig ist, um Gesamtleistungen zu ermöglichen, die rechtskreisübergreifend oder in Ergänzung zu Bundes- und Landesprogrammen Leistungsmodule miteinander verbinden.“
Hintergrund ist die notwendige Verknüpfung von Maßnahmen der Arbeitsförderung mit den Leistungen anderer Rechtsgebiete wie beispielsweise der Kinder- und Jugendhilfe zu ganzheitlichen Unterstützungsleistungen, die besonders benachteiligten Personengruppen zugutekommen. Weitere Anwendungsfälle liegen in der Verknüpfung von Maßnahmen der Arbeitsförderung mit (ESF-geförderten) Bundes- oder Landesprogrammen zu abgestimmten Förderkulissen. In obigen Konstellationen ist auf der Grundlage einer Zuwendungsfinanzierung eine Förderentscheidung (etwa eines Bundeslandes, des örtlichen Jugendamtes) zugunsten eines Leistungserbringers gefallen, der sich anschließend um eine anteilige Mitfinanzierung aus den Mitteln der Arbeitsförderung gegenüber dem örtlichen Jobcenter bzw. der Arbeitsagentur bemüht. Bislang konnten die Jobcenter und Arbeitsagenturen einem solchen Anliegen in eigenem Interesse Rechnung tragen. Unter Anwendung des Vergaberechts konnten sie mit der sog. freihändigen Vergabe eine gezielte Vergabe an den zuvor von einem Dritten ausgewählten und mit einer Kofinanzierung ausgestatteten Träger vornehmen. Das ist für Arbeitsagenturen und Jobcenter häufig wirtschaftlich sehr interessant, weil die Maßnahme zu einem erheblichen Anteil von einem Dritten mitfinanziert wird. Der Wettbewerb ist gewahrt, weil zuvor der Zuwendungsgeber (z. B. ein Bundesland, ein Jugendamt) im Rahmen eines Teilnahmewettbewerbs über die Zuwendungsfinanzierung entschieden hat.
Die Einheitliche Europäische Eigenerklärung macht auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen Sinn. Sie sollte allerdings dann nicht anwendbar sein müssen, wenn es bereits andere Nachweiserfordernisse gibt wie zum Beispiel im Rahmen der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV). Absatz 4 sollte insoweit um folgenden Halbsatz erweitert werden:
„, soweit es ein gleichwertiges Instrument gibt.“
Die Ausrichtung des Absatzes 5 begrüßen wir. Die Regelung greift ein wichtiges Anliegen auch der Wohlfahrtsverbände auf, die angesichts der Erfahrungen mit der bisherigen Umsetzung bieterbezogener Erfolgs- und Qualitätskriterien vor einer einseitigen Fokussierung auf die Integrationsquote und eine damit einhergehende „Bestenauslese“ der Teilnehmenden (sog. Creaming-Effekt) gewarnt haben. Bei der Weiterentwicklung der bieterbezogenen Erfolgs- und Qualitätskriterien muss es darum gehen, die in der Qualitätssicherung etablierten Kriterien Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität abzubilden. Der in Abs. 5 genannte neue Katalog zur Berücksichtigung von Erfolg und Qualität bisher erbrachter Arbeitsmarktdienstleistungen weist in diese Richtung.
Der Katalog ist mindestens zu ergänzen um die Nutzerperspektive:
„4. Beurteilungen der Vertragsausführung durch den öffentlichen Auftraggeber und durch die Teilnehmenden anhand transparenter und nichtdiskriminierender Methoden .“
Dies ergibt sich zwingend aus Artikel 76 Abs. 2 der EU-Auftrags-Richtlinie. Die öffentlichen Auftraggeber haben danach u. a. den spezifischen Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen und der Einbeziehung und Ermächtigung der Nutzer Rechnung zu tragen.
Schwellenwerte
Das besondere Vergaberecht für soziale Dienstleistungen greift nur ab dem Schwellenwert von 750.000 €. Der Auftragswert der meisten einschlägigen Vergaben liegt darunter. Es ist nicht vermittelbar, oberhalb des Schwellenwertes ein flexibleres Regime zu haben als darunter. Deshalb müssen die §§ 64 ff. der Verordnung auch unterhalb des Schwellenwertes anwendbar sein.