Vorbemerkung
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbe- ziehung der Sozialverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellung- nahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2014. Sie weist jedoch darauf hin, dass die diesjährige Fristsetzung, im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilge- sellschaft, von der in Ziffer 123 des NRP-Entwurfes die Rede ist, völlig unzureichend ist. Erst auf Nachfrage wurde der Entwurf vom 3. März 2014 am 21. März 2014 der BAGFW zur Kenntnis gegeben und eine Frist bis zum 25. März 2014 gesetzt. Derartige Fristen sollten sich künftig an dem Verhaltenskodex für Partnerschaften für die Struktur- und Investitionsfonds ausrichten, in dem u.a. eine Frist von 10 Werkta- gen vorgeschlagen wird, in denen Unterlagen vorab zu Sitzungen etc. übermittelt werden sollten (vgl. dazu C (2013) 9651 final, Art. 11).
Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Stra- tegie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2014 Stellung und berücksichtigt dabei auch die am 13.12.2013 eingereichten Anmerkungen und Hin- weise zur Fortschreibung des NRP 2014.
Wir gehen dabei insbesondere auf die drei sozialpolitischen Kernziele
· Beschäftigung fördern
· Bildungsniveau verbessern
· Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
und die länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2013 ein.
1. “Europa 2020-Strategie: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“ “A. Beschäftigung fördern – Nationaler Beschäftigungsplan“
(Ziffern 81 – 85 des vorgelegten NRP-Entwurfes 2014)
Bewertung:
Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020- Kernzielen mit den folgenden nationalen Indikatoren (abweichend von den EU-weiten Indikatoren) verpflichtet:
· Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%
· Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%
· Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%
Die ersten beiden Indikatoren hat DE bereits im 3. Quartal 2013 (über)-erreicht, die Erwerbstätigenquote für Frauen ist noch ausbaufähig. Eine Erhöhung der Quote soll u.a. durch die Aktivierung des inländischen Beschäftigungspotentials erfolgen.
Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und dem zusätzli- chen Bedarf an Personal hierzu einen signifikanten Beitrag erbringen. Für die Steige- rung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Angebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und quali- tätsgerecht ausgebaut werden.
Darüber hinaus sollten die beruflichen Förderangebote für Frauen weiter entwickelt und dabei auch das Angebot für Teilzeitqualifizierungen ausgebaut werden.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2013 wird Deutschland aufgefordert,
· geeignete Aktivierungs- und Integrationsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose aufrecht zu erhalten und
· die Umwandlung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie Minijobs in nachhaltigere Beschäftigungsformen zu erleichtern (s. dazu COM (2013), 355 final, S. 6)
Das Arbeitspapier der Kommission (KOM) zu den länderspezifischen Empfehlungen konstatiert unzureichende Fortschritte bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Grup- pen (s. dazu SWD (2013), 355 final).
Rund 1 Mio. oder 36,4% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im Juni
2013 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hat- ten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeits- markt als kurzzeitig Arbeitslose. 48,7% der rund 4,45 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II waren im Juni 2013 vier Jahre und länger ohne Un- terbrechung im Leistungsbezug. Das entspricht nur einem leichten Rückgang von
0,3% zum Dezember 2012. Wissenschaftler/innen der Universität Koblenz-Landau haben errechnet, dass 435.000 Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration haben. Langzeitarbeitslose sind in der Arbeitsmarktförderung unterrepräsentiert.
Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2012 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 15% an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpoli- tik beteiligt.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, die einseitige Ausrichtung der Arbeitsmarktförde- rung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbezieher/innen und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsin- strumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeits- marktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit vielfachen Vermitt- lungshemmnissen an.
Auch wenn diese Hilfen nicht immer unmittelbar der Arbeitsvermittlung dienen, unter- stützen sie eine nachhaltige Überwindung des Leistungsbezugs und schaffen Vo- raussetzungen, um Langzeiterwerbslose an den Arbeitsmarkt heranzuführen und
dort zu integrieren. Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förde- rung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema ‚Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern‘).
In den länderspezifischen Empfehlungen 2013 hat der Rat der EU ausdrücklich emp- fohlen, dass die “Umwandlung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie Mi- nijobs in nachhaltigere Beschäftigungsformen“ erleichtert werden soll. Dem Entwurf des NRP 2014 zufolge (Ziff. 82) setzt sich die Bundesregierung für “gute Arbeit mit angemessener Bezahlung“ ein. Atypische Beschäftigung in Deutschland existiert je- doch trotz eines leichten Rückgangs weiterhin auf einem hohen Niveau. Mehr als jede/r fünfte Arbeitnehmer/in arbeitet nach Angaben des Statistischen Bundesamtes atypisch. Dazu zählen Minijobber, Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Teilzeitar- beiter. Zwischen 1991 und 2012 gab es einen Anstieg von 78% der atypischen Be- schäftigungsverhältnisse von 4,4 Millionen auf 7,89 Millionen. Mehr als drei Viertel (76,4 %) der Beschäftigten in Minijobs verdienen weniger als 8,50 EUR pro Stunde.1
Eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote in Deutschland wird aufgrund der Wirt- schafts- und Finanzkrise auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland erreicht, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.
Im ersten Halbjahr 2013 sind nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bun- desamtes 555.000 Personen nach Deutschland zugezogen. Das waren 55.000 Zu- züge mehr als im ersten Halbjahr 2012 (+ 11%). Damit gab es zum dritten Mal in Folge eine zweistellige Zuwachsrate bei den Zuwanderungen in einem ersten Halb- jahr. Gleichzeitig zogen im ersten Halbjahr 2013 rund 349.000 Personen aus Deutschland fort (+ 10%). Insgesamt hat sich dadurch der Wanderungssaldo von
182.000 auf 206.000 Personen erhöht (+ 13%). Er blieb damit wie in den Vorjahren auf hohem Niveau (s. dazu
1 Dorothea Voss und Claudia Weinkopf “Niedriglohnfalle Minijob“ WSI Mitteilungen 1/12, S. 8
<link http: www.destatis.de de presseservice presse pressemitteilungen pd13>www.destatis.de/DE/PresseServi<link http: www.destatis.de de presseservice presse pressemitteilungen pd13>ce/P<link http: www.destatis.de de presseservice presse pressemitteilungen pd13>resse/Pressemitteilungen/2013/11/PD13
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Die Erwerbsbeteiligung der Zuwanderer/innen aus anderen EU-Staaten ist dabei kaum geringer als die der Deutschen. Viele Zuwanderer nehmen an einer Ausbildung teil (vgl. dazu: DIW Wochenbericht, Nr. 49, 2013: Zuwanderung und Beschäftigung; <link http: www.diw.de sixcms detail.php>www.diw.de/sixcms/detail.php/432785 ). Andere finden – auch aufgrund büro- kratischer Hürden und/oder mangelnder Deutschkenntnisse – nicht sofort eine Be- schäftigung. Wegen der damit verbundenen Belastungen einiger deutscher Kommunen wird in einigen Mitgliedsstaaten das Recht auf Freizügigkeit angezweifelt bzw. soll eingeschränkt werden. Insbesondere das uneingeschränkte Recht auf So- zialleistungen wird für Zuwandernde aus anderen EU-Staaten in Frage gestellt. So werden vor allem in Deutschland und Großbritannien als Maßnahmen gegen den (vorgeblichen) ‚Missbrauch des Freizügigkeitsrechts‘ Ausreisepflichten mit Wieder- einreisesperren vorgeschlagen. Im NRP der Bundesregierung ist zu diesem beschäf- tigungs- und armutspolitisch wichtigen Thema, das die deutsche Öffentlichkeit monatelang beschäftigt hat, nichts zu finden.
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU.
Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bür- ger aus EU-Mitgliedsstaaten, die sich in der Krise befinden, es aktiv nutzen, um ihre soziale Situation und Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt zu verbessern.
Auch sie müssen eine Chance auf dem gesamten Europäischen Arbeitsmarkt erhal- ten. Wanderungen auch von mittellosen EU-Bürger/innen sind logischer Bestandteil der Personenfreizügigkeit. Alles andere wäre eine unzulässige Diskriminierung von in Armut Lebenden und mit dem europäischen Gedanken nicht vereinbar.
Im deutschen Recht haben EU-Bürger/innen mit Erwerbstätigenstatus unstrittig einen unbedingten, gleichberechtigten Zugang zu allen Sozialleistungen. Zur Arbeitssuche eingereiste EU-Bürger/innen sind hingegen von Leistungen nach SGB II oder SGB
XII ausgeschlossen (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGB II, § 23 Abs. 3 SGB XII). Leistungen, die unabweisbar geboten sind wie z.B. in Notfällen, sind jedoch stets zu erbringen. Es ist sehr umstritten, ob die Leistungsausschlüsse europarechtskonform sind. Bislang gibt es keine höchstrichterliche Entscheidung dazu und die Landesso- zialgerichte urteilen unterschiedlich. In Folge der komplexen Rechtslage und der dif- ferenten Rechtsprechung bestehen in der Praxis erhebliche Unsicherheiten, ob und wann die Leistungsausschlüsse greifen. Derzeit sind zwei Vorlagefragen beim EuGH zum Leistungsausschluss existenzsichernder Leistungen für Arbeitsuchende und wirtschaftlich inaktive EU-Bürger in Deutschland anhängig.
Die Mobilität von Arbeitnehmer/innen muss sozial und fair gestaltet und das Prinzip “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ sichergestellt werden. Insofern ist auch bei der Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie darauf zu achten, dass die Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts ebenso wie Arbeitnehmerschutz, Teilhaberechte und Ansprüche auf soziale Leistungen und eine effektive Miss- brauchsbekämpfung bei der Entsendung von Arbeitnehmer/innen verwirklicht wer- den.
Die BAGFW fordert die Bundesregierung auf, dass das NRP 2014 dazu eine Selbst- verpflichtung in dem o.g. Sinne abgibt.
2. “D. Bildungsniveau verbessern“
(Ziffer 100-102 des vorgelegten NRP-Entwurfes 2014 )
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Indika- tors verpflichtet:
· Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken
Obwohl der Anteil der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Hauptschulab- schluss zwischen 2008 und 2012 insgesamt zurückgegangen ist, gibt es signifikante regionale Unterschiede.
In den Erhebungen der statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in West- deutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förder- abschluss.
Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgän- ger/innen, also den EU-2020 Leitindikator, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen berufli- chen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland.
Der Caritas-Studie “Bildung vor Ort“ aus dem Jahr 2013 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf 6% im Jahr 2011 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,9% im Saarland und 12,7% in Mecklenburg- Vorpommern (s. dazu<link http: www.caritas.de fuerprofis fachthemen kinderundjugendliche bildungschancen> www.caritas.de/fuerprofis/fachthemen/kinderundjugendliche/bildungschancen/ mehrschulabgaengerhabeneinenabschluss).
Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssys- tem.
Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förde- rung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung per- sönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Men- schen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.
Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusam- menhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen. Jeder Jugendliche ohne Abschluss in Deutschland ist einer zu viel. Diese Ansicht steht auch in Einklang mit den länderspezifischen Empfehlungen, die die Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Bevölkerungsgruppen anmahnt, indem vor allem die Chancengleich- heit im allgemeinen und beruflichen Bildungssystem sichergestellt wird. Diese An- strengungen sollten auch vor dem Hintergrund “Nutzung des vollen Arbeitskräftepotenzials“ ihren Niederschlag im NRP 2014 finden.
3. “E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
(Ziffern 103 – 109 des vorgelegten NRP-Entwurfes 2014)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator verpflichtet:
- Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern
Laut dem NRP-Entwurf 2014 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen
2008 und 2012 um 36% verringert, d.h. der national gesetzte Indikator wurde bereits erreicht.
Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, je- doch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.
Trotz wachsender Beschäftigtenzahl sind heute mehr Menschen von Armut bedroht. Laut dem vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Datenreport 2013 lag der Anteil armutsgefährdeter Personen 2011 bei 16,1% (2007: 15,2%). Als armutsgefährdet galt 2011, wer weniger als 980 Euro im Monat zur Verfügung hatte. Bei den 55- bis
64-Jährigen stieg das Armutsrisiko innerhalb von vier Jahren deutlich an: von 17,7% im Jahr 2007 auf 20,5% im Jahr 2011. Unter den 18- bis 24-Jährigen galten 2011 bereits 20,7% als armutsgefährdet (2007: 20,2%). Gleichzeitig hat die dauerhafte Armutsgefährdung zugenommen. Von den im Jahr 2011 armutsgefährdeten Perso- nen lagen 40% mit ihrem Einkommen bereits in den letzten fünf Jahren unter der Ar- mutsrisikogrenze. 2000 betrug der Anteil der dauerhaft unterhalb der Armutsrisikogrenze Lebenden 27% (s. dazu <link http: www.presseportal.de pm mehr-jobs-aber-auch-mehr-armut->www.presseportal.de/pm/32102/2607026/mehr-jobs-aber-auch-mehr-armut- datenreport-2013-erschienen ).
Eine differenziertere Betrachtung regionaler Unterschiede im Armutsrisiko ist für die deutschen Raumordnungsregionen möglich. Nach Angaben der statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus Basis des Mikrozensus ergibt sich für 2012 folgen- des Bild: die Armutsgefährdungsquote ist in Ostdeutschland (19 %) deutlich höher als in Westdeutschland (14 %). Es gibt darüber hinaus aber weitere regionale Unter- schiede: in Westdeutschland ist ein Nord-Süd-Gefälle festzustellen: einzelne städti- sche Regionen im Norden und Westen in Westdeutschland haben ähnliche hohe Armutsgefährdungsquoten wie in Ostdeutschland.
Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregie- rung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende insbesondere auch regionale Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.
Die BAGFW regt an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haus- halt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren, also die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefähr- dungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivati- on) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden. Ein Baustein dazu stellt der von der KOM vorgeschlagene und vom EP und Rat unterstützte “Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Perso- nen“ dar, der den Förderbereich ‚Soziale Inklusion‘ beinhaltet. Damit könnten bisher nicht erreichte Zielgruppen (wie z.B. die Mitglieder in Bedarfsgemeinschaften und andere benachteiligte Personengruppen auch außerhalb des SGB II wie z.B. Woh- nungslose) unterstützt werden. Zudem könnte eine Neuausrichtung der Ergebnisindi- katoren im Hinblick auf die Stärkung von gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe und die Förderung der arbeitsmarktrelevanten Beschäftigungsfähigkeit erprobt wer- den.
Zur Armutsbekämpfung hilft aber eine primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen ausgerichtete Sozialpolitik nicht weiter. Der langfristige Bezug von SGB II- Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachver- halten wie Familienverantwortung, Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung und nicht-existenzdeckenden Löhnen (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5% der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dau- erhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Hilfen zur sozialen Integration und Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten sind von zentraler Wichtigkeit, wenn langfristig und dauerhaft der Leistungsbezug überwunden werden soll. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungs- beziehenden müssen in Verbindung mit einer Stärkung der dem Grundsicherungs- bezug vorgelagerten Systeme sowie einem umfassenden Maßnahmenpaket zur Si- cherung auskömmlicher Entlohnung neben direkten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen hinzutreten. Die BAGFW schlägt vor, hieraus weitere sozialpolitische Schwerpunkte neben den bisher genannten Indikatoren zu setzen.
Die BAGFW hat deshalb den Programmvorschlag ‚Schritt für Schritt – Coaching zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit‘ entwickelt, der die o.g. Ergebnisindikato- ren adressiert. Dieser Vorschlag kann von Seiten der BAGFW in die Diskussion zur Umsetzung des Hilfsfonds in Deutschland zur Bekämpfung von Armut und Armutsge- fährdung eingebracht werden und sollte sich an alle die benachteiligten Zielgruppen
in Deutschland wenden, die bisher bei einer Förderung über die Europäischen Struk- tur- und Investitionsfonds nicht angemessen berücksichtigt wurden.
In Ziffer 109 des NRP-Entwurfes wird auf weitere Maßnahmen der Bundesregierung zur sozialen Eingliederung und der Bekämpfung von Armut auf den NSB 2014 ver- wiesen, der aber als Teil der Offenen Methode der Koordinierung zu verstehen ist
und keine verbindlichen Auswirkungen auf die nationale Strategie zur Armutsreduzie- rung in Deutschland hat.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden.