Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2013

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt, dass das BMAS den partnerschaftlichen Einbezug der Sozialverbände im Rahmen des Europäischen Semesters intensiviert und im Vorfeld des anstehenden Konsultations- prozesses zu einem Gespräch zur Fortschreibung des Nationalen Reformprogramms im Januar 2013 eingeladen hat.

Vorbemerkung

 

 

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßt, dass das BMAS den partnerschaftlichen Einbezug der Sozialverbände im Rahmen des Europäischen Semesters intensiviert und im Vorfeld des anstehenden Konsultations- prozesses zu einem Gespräch zur Fortschreibung des Nationalen Reformprogramms im Januar 2013 eingeladen hat.

 

Sie merkt aber kritisch an, dass das eingeleitete Konsultationsverfahren der Bundes- regierung zum Nationalen Reformprogramm 2013 insgesamt immer noch nicht den Erwartungen an die Europa 2020-Strategie und dem vom Europäischen Rat am

03.03.2010 formulierten Anspruch an eine partnerschaftliche Zusammenarbeit ge- recht wird. Dies zeigt sich insbesondere an den diversen offenen Punkten im NRP- Entwurf für 2013, wo sowohl die aktuelle Datenlage als auch die sozialpolitischen Ausdifferenzierungen bisher nicht fortgeschrieben wurden.

 

Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Stra- tegie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2013 Stellung. Wir gehen dabei insbesondere auf die drei sozialpolitischen Kernziele

 

·    Beschäftigung fördern

·    Bildungsniveau verbessern

·    Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern

 

und die länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2012 ein.

 

 

 

„Das gesamtwirtschaftliche Umfeld“

(Ziffer 14)

 

Bewertung:

 

Die Zahl der erwerbstätigen Personen in Deutschland hat sich von 41,2 Mio. im Jahr

2011 auf knapp 41,6 Mio. im Jahr 2012 erhöht. Davon waren 29 Mio. sozialversiche-

 

rungspflichtig beschäftigt. Es lässt sich zeigen, dass das gesamtwirtschaftliche Ar- beitsvolumen trotz des Anstiegs der arbeitenden Personen im Vergleich zu 1991 deutlich gesunken ist. Das bedeutet: Die positive Beschäftigungsentwicklung ist in hohem Maße auf eine Ausweitung der Teilzeitjobs sowie der geringfügigen Beschäf- tigung zurückzuführen. Vollzeitstellen gingen gleichzeitig in großem Umfang verloren. Die anteilig geleistete Arbeitszeit der Vollzeitarbeitnehmer/innen ist kontinuierlich ge- sunken, so dass man von einem fortdauernden Bedeutungsverlust des Normalar- beitsverhältnisses reden kann. Vor dem Hintergrund, dass das deutsche Sozialversicherungssystem bislang auf eine möglichst ununterbrochene Vollzeit- Erwerbsbiografie setzt, sieht sich die Freie Wohlfahrtspflege veranlasst, auf die Kon- sequenzen dieser Entwicklungen hinzuweisen. Die Anzahl der Erwerbspersonen er- laubt des Weiteren keine Aussagen über die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse und die Höhe der Entlohnung.

 

So spielen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (so genannte Minijobs) nach wie vor eine große Rolle, die Hoffnung auf eine Brückenfunktion in den ersten Arbeits- markt hat sich bisher nicht erfüllt. Der Anteil von Zeitarbeitnehmer/innen liegt in Deutschland über dem europäischen Durchschnitt. In beiden Bereichen sind Niedrig- lohnverhältnisse weit verbreitet. Problematisch ist auch der geringe Frauenanteil un- ter den Vollzeitbeschäftigten. Eine nach wie vor hohe Anzahl an so genannten

„Aufstockern“, also beschäftigten Personen, deren Einkommen unterhalb des Regel- bedarfs (plus Freibeträgen) liegt, ist die Folge. Deutschland liegt im Bereich der Ar- beitsarmut im europäischen Mittelfeld. Auf der Hand liegt ein enger Zusammenhang mit dem häufig konstatierten Anstieg der Armutsgefährdung.

 

 

 

„Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen des Rates für Deutschland“

„Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit“

(Ziffer 48)

 

Bewertung:

 

Der Entwurf des NRPs benennt die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit als wichtiges Ziel. Dabei wird jedoch nicht zwischen Langzeitarbeitslosen, die

 

a)  nicht deutlich mehr als zwölf Monate arbeitslos und noch relativ arbeits- marktnah sind und

b)  arbeitsmarktferneren Gruppen differenziert.

 

Während für erstere Vermittlungserfolge zu verzeichnen sind, besteht das Problem der verfestigten Sockelarbeitslosigkeit fort.

 

1,9 Millionen Erwerbslose und ihre Angehörigen in 0,9 Millionen Bedarfsgemein- schaften der Grundsicherung waren nach Untersuchungen des IAB schon 2005 im Leistungsbezug. Von diesen war knapp die Hälfte als Erwerbslose registriert. Fast die Hälfte der Leistungsberechtigten verbleiben darin zwei Jahre oder länger. Zwar

gibt es in absoluten Zahlen einen Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit, bei genaue- rer Analyse der Verweildauern zeigt sich jedoch, dass im Jahr 2010 73,8% der er- werbsfähigen Leistungsberechtigten (zwischen 15 und 65 Jahren) länger als ein Jahr im SGB II-Bezug waren. Im Jahr 2011 (jüngere Werte liegen noch nicht vor) gab es

 

sogar einen prozentualen Anstieg: 74,8% der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten waren länger als ein Jahr im SGB II-Bezug. Bei den Personen, die zwei Jahre und länger im SGB II-Bezug waren, gab es sogar einen Anstieg von 58,7% auf 60,7%.

So genannte „schädliche Unterbrechungen“ beeinflussen die Statistik der BA. Perso- nen, die in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, über einen längeren Zeitraum krankgeschrieben sind, oder mehr als 15 Wochenstunden arbeiten, werden im An- schluss wieder als „kurzzeitarbeitslos“ geführt.

 

Insofern liegt eine Statistik vor, die das tatsächliche Ausmaß der Langzeitarbeitslo- sigkeit weder hinsichtlich der Dauer noch hinsichtlich der Zahl der Langzeitarbeitslo- sen realistisch abbildet. Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Definition von Langzeitarbeitslosigkeit verändert werden sollte. Menschen, die an arbeitsmarktpoli- tischen Maßnahmen teilnehmen, sollten weiterhin als „Arbeitslose“ geführt werden. Als Indikator für verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit könnte die Zahl der erwerbsfähi- gen Hilfebedürftigen herangezogen werden, die länger als ein Jahr im Hilfebezug sind, dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen, sich nicht in schulischer oder schulähnlicher Bildung befinden und auch kein Arbeitseinkommen beziehen.

 

Die positiven Entwicklungen am Arbeitsmarkt gehen an den Menschen vorbei, die nicht ohne weiteres in den ersten Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Dies betrifft vor al- lem Menschen mit mangelnder oder schlechter Qualifizierung, gesundheitlichen Ein- schränkungen und geringen Sprachkenntnissen. Die BAGFW warnt davor, die Hilfen zur Überwindung von Arbeitslosigkeit auf diejenigen zu konzentrieren, die noch eine relative Arbeitsmarktnähe haben.

 

Um langfristige Arbeitslosigkeit und damit Armut zu vermeiden, müssen Eingliede- rungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung ar- beitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Hier bieten sich langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit vielfachen Vermitt- lungshemmnissen an. Die Reduzierung der Eingliederungsmittel seit 2010 um die Hälfte und die Auswirkungen des Gesetztes zur Verbesserung der Eingliederungs- chancen am Arbeitsmarkt haben die Fördermöglichkeiten für diese Zielgruppe  derart beschnitten, dass die öffentlich geförderte Beschäftigung für Langzeitarbeitslose nur noch sehr begrenzt umgesetzt werden kann. Die BAGFW erachtet es deshalb als notwendig, die Wirkungsorientierung der verbliebenen Instrumente zu prüfen und sie weiterzuentwickeln.

 

 

 

„Kindertagesbetreuung ausbauen“

(Ziffer 58)

 

Bewertung:

 

Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab 01.08.2013 für Kinder zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr ist ein wichtiger Schritt in der Familien- und Bil- dungspolitik gewesen. Trotz dieses verankerten Rechtes und der angeführten Be- mühungen des Bundes, der Länder und der Kommunen ist eine Betreuung aller anspruchsberechtigten Kinder noch nicht gesichert. Derzeit fehlen nach Schätzungen rund 200.000 Kinderbetreuungsplätze, um dem aktuellen Bedarf zu entsprechen. Besonders wegen des engen Bezuges zwischen frühkindlicher Bildung und der schu-

 

lischen Erfolge ist es wichtig, dass der Bund hier weitere Verpflichtungen eingeht, um den quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung voranzubringen. Nur so kann der Rechtsanspruch auch eingelöst werden.

 

Der vorliegende Entwurf des Nationalen Reformprogramms nimmt keinen Bezug auf das im November 2012 von der Bundesregierung beschlossene Betreuungsgeld. Es wurde beschlossen, dass zeitgleich zum Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz Eltern eine Bundesleistung in Höhe von monatlich 100 Euro erhalten, wenn sie ihr Kind nicht in eine Betreuungseinrichtung geben. Diese familienpolitische Leistung bewertet die BAGFW als Widerspruch zum Ziel der Bundesregierung, den Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt zu erhöhen. Darüber hinaus konterkariert das Betreuungs- geld den zuvor eingeführten Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz.

 

 

 

„Europa 2020-Strategie: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“

„Beschäftigung fördern“

(Ziffern 81 & 85)

 

Bewertung:

 

Bei den Erwerbstätigenquoten hat Deutschland das nationale Ziel einer Erwerbstäti- genquote für Frauen von 73 % noch nicht erreicht. Die Erhöhung der Quote soll u.a. durch die Aktivierung des inländischen Beschäftigungspotentials erfolgen.

 

Die Mehrheit der Beschäftigten in den Arbeitsfeldern der Freien Wohlfahrtspflege ist weiblich (z.B. in der ambulanten und stationären Langzeitpflege > 80 %). Demografischer und sozialer Wandel führen dazu, dass ein höherer Arbeitskräftebe- darf gerade auch in der Sozialwirtschaft zu Tage tritt.

 

Deshalb ist es der BAGFW wichtig, dass die Thematik der Anpassung der Arbeits- kräfte, Unternehmen und Unternehmer an den demographischen Wandel im NRP eine starke Rolle spielt. Dabei sollten unter anderem berücksichtigt werden:

 

·    Verringerung des Fachkräftemangels im Bereich der Sozialwirtschaft.

·    Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung sollten zu einer „Strategischen Wei- terbildungsoffensive für Beschäftigte in der Sozialwirtschaft“ werden.

 

Im Hinblick auf die Erwerbstätigenquote für Frauen kann die Sozialwirtschaft einen signifikanten Beitrag einbringen. Die BAGFW empfiehlt, berufliche Förderangebote für Frauen generell zu erhöhen.

 

 

 

„Bildungsniveau verbessern“

(Ziffer 106)

 

Bewertung:

 

Der Anteil der frühen Schulabgänger ist von 2009 auf 2010 von 11,1 Prozent auf

11,9 Prozent gestiegen. Das nationale EU-2020-Ziel von unter 10 % wird nicht er- reicht. Leider liegt für den EU-Benchmark „Senkung der Quote der frühen Schulab-

 

gänger“ bisher keine aktuelle Zahl vor. Unabhängig davon steht der Zahl der frühen Schulabgänger die Aussage der Bundesregierung gegenüber, im Bereich Bildung große Erfolge erzielt zu haben. Nach Ansicht der BAGFW muss in diesem Bereich noch deutlich mehr unternommen werden, um das Ziel zu erreichen.

 

Der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss wird im NRP als sinkend ausgewiesen. Die BAGFW bedankt sich, dass die Bundesregierung den Indikator

„Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss“ in das NRP aufgenommen hat.

 

Es sind diese Kinder und Jugendlichen, die später die größten Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben. Da die regionalen Unterschiede in der Quote der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss trotz sinkender bundesweiter Quote groß sind, sieht die BAGFW weiterhin einen Handlungsspielraum und Förderbedarf. Jugendliche mit mul- tiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden.

 

Außerdem sind noch stärkere Anstrengungen notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen. Diese Ansicht steht auch in Ein- klang mit den länderspezifischen Empfehlungen, die die Anhebung des Bildungsni- veaus benachteiligter Bevölkerungsgruppen anmahnt, indem vor allem die Chancengleichheit im allgemeinen und beruflichen Bildungssystem sichergestellt wird. Diese Anstrengungen sollten auch vor dem Hintergrund „Nutzung des vollen Arbeitskräftepotenzials“ ihren Niederschlag im Nationalen Reformprogramm finden.

 

 

 

„Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“

(Ziffern 110 – 113)

 

Bewertung:

 

Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, je- doch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.

 

Das Armutsrisiko hat sich laut Nationalem Sozialbericht (Entwurf für 2012) trotz der deutlich positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt weiter erhöht: von 15,6 % in

2010 (ca. 12,6 Mio. Personen) auf 15,8 % in 2011 (ca. 12,76 Mio. Menschen).

 

Die BAGFW weist auf die Notwendigkeit hin, sich verstärkt um Menschen zu küm- mern, die in verfestigter Arbeitslosigkeit leben. Die BAGFW stellt fest, dass sich selbst bezogen auf die Zielsetzung, die Langzeitarbeitslosigkeit zu reduzieren, keine konkreten Maßnahmen im Entwurf des NRP 2013 finden, die der Dringlichkeit des Problems und der Lebenslage der betroffenen Menschen gerecht werden. Es wird lediglich auf den NSB 2012 verwiesen, der aber als Teil der Offenen Methode der Koordinierung zu verstehen ist und keine verbindlichen Auswirkungen auf die natio- nale Strategie der Armutsverringerung hat.

 

Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden.

 

Im NRP müssten deshalb - neben der bloßen Anzahl von Langzeitarbeitslosen – Ge- sichtspunkte berücksichtigt werden, die zu eingeschränkten Chancen am Arbeits- markt führen, wie soziale Risiken, Alter, Behinderung, Krankheit und Herkunft. Darüber hinaus spielt aber auch das familiäre oder soziale Umfeld, geringe Qualifika- tion, der Status alleinerziehend oder der fehlende Schul- oder Berufsabschluss eine für Armut bestimmende Rolle.

 

Nach Auffassung der BAGFW sollte die Bundesregierung deshalb den ihrer Berech- nung zu Grunde gelegten Indikator weiter differenzieren oder durch weitere Indikato- ren, wie materielle Deprivation oder die relative Armutsquote ergänzen. Eine Differenzierung des Indikators „Langzeitarbeitslosigkeit“, z.B. eine Ergänzung durch die Dauer des Hilfebezugs im SGB II, könnte Aspekte berücksichtigen, die Ursache oder Folge von Langzeitarbeitslosigkeit sind. Das würde bedeuten, über die rein quantitative Bemessung hinauszugehen.