Vorbemerkung
Mit dem EU/US-Freihandelsabkommen (TTIP) sollen zwischen den leistungsstärksten Wirtschaftsregionen der Welt Regelungen über den Marktzugang, den Abbau bürokratischer Hürden und die Liberalisierung von Dienstleistungen getroffen werden.
Es zeichnet sich noch kein klares Bild ab, welche Bedeutung für und Wirkung auf die Erbringung von sozialen Dienstleistungen das Abkommen haben wird. Die BAGFW spricht sich daher für eine klare Benennung der Verhandlungsgegenstände aus.
Die BAGFW hält es für sinnvoll und aus Gründen der Rechtssicherheit für erforderlich, die Gegenstände des TTIP und vergleichbarer Abkommen in einer abschließenden Positivliste zu regeln. Der folgende Text versteht sich als Beitrag zu einer solchen Liste, in dem er als ersten Schritt Tätigkeitsfelder der Freien Wohlfahrtspflege benennt, die nicht in eine spätere Positivliste gehören.
Als Erbringer sozialer Dienstleistungen unterhält die Freie Wohlfahrtspflege rund
105.000 Einrichtungen und Dienste, in denen etwa 1,67 Mio. hauptamtlich Beschäftigte tätig sind. Die Leistungserbringung erfolgt nicht-gewinnorientiert und richtet sich an den Bedarfen der Menschen aus.
In der Leistungserbringung durch die Freie Wohlfahrtspflege verbinden sich der sozialstaatliche Auftrag des Grundgesetzes und das eigenständige Betätigungsrecht frei- gemeinnütziger Träger einerseits mit der anwaltschaftlichen Funktion für Menschen
in Notlagen und dem ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement der Bürgerinnen und Bürger andererseits.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sprechen sich nicht grundsätzlich gegen Wettbewerb und Markt aus. Die Erbringung sozialer Dienstleistungen unterliegt aller- dings besonderen sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und Standards, die mitt- lerweile in den europäischen Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln anerkannt werden. Von daher sprechen sich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege dafür aus, die sozialen Dienste als Dienste von allgemeinem Interesse von den Verhand- lungen auszunehmen.
1 Die Stellungnahme entspricht dem derzeitigen Informations- und Kenntnisstand. Wir behalten uns vor, dem weitere Aspekte hinzuzufügen, wenn sich neue Erkenntnisstände ergeben.
Aus Sicht der BAGFW ist folgender Grundsatz zu beachten, der in dem Freihandels- abkommen Berücksichtigung finden müsste.
Soziale Dienste von allgemeinem Interesse - Daseinsvorsorge
Die Erbringung sozialer Dienstleistungen in Europa erfolgt auf der Grundlage ihrer sozialstaatlichen Verfasstheiten und politischen Traditionen. In den letzten Jahren sind im Rahmen des Binnenmarktes große Anstrengungen unternommen worden, europarechtskonforme Lösungen für die mitgliedstaatlichen Sozialsysteme zu finden. Einseitige Betrachtungen unter Wettbewerbs- und Marktgesichtspunkten werden der spezifischen Situation der sozialen Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten der EU nicht gerecht. Die Sicherung der Daseinsvorsorge in den und durch die Mitgliedstaa- ten der Europäischen Union ist für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege von hochrangiger Bedeutung.
Die BAGFW erwartet, dass die sozialen Dienstleistungen als Dienste im all- gemeinen Interesse im Sinne der Bestimmungen des Vertrags über die Ar- beitsweise der Europäischen Union (Art. 14 und Protokoll 26) vom Anwendungsbereich des Abkommens ausgenommen werden. Der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf qualitativ hochwertige Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ohne Einschränkungen für die Leis- tungserbringung durch gemeinnützige Organisationen muss erhalten bleiben.
Sofern im Freihandelsabkommen dennoch Vereinbarungen zu einzelnen sozialen
Dienstleistungen getroffen werden sollten, sind folgende Aspekte zu beachten:
Öffentliche Verantwortung
Das deutsche Sozialrecht sieht eine öffentliche Verantwortung (Gewährleistung) für die Bereitstellung von sozialen Diensten vor. Die Erbringung der Dienstleistungen erfolgt in Partnerschaft mit den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege. Die Bürgerin- nen und Bürger haben vielfach einen Rechtsanspruch auf diese Dienstleistungen. Dieses sozialrechtliche Dreieck gewährleistet ein Wunsch- und Wahlrecht der Bürge- rinnen und Bürger und sichert die Vielfalt der Einrichtungen und Dienste.
Im Rahmen dieser Partnerschaft werden gemeinnützige Leistungserbringer unter- stützt und gefördert.
Die BAGFW erwartet, dass die öffentliche Verantwortung für die Bereitstellung und die Erbringung von sozialen Dienstleistungen nicht durch das Freihan- delsabkommen und etwaige regulatorische Maßnahmen unterlaufen wird. Öf- fentliche Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung sozialer Dienstleistungen sind Ausdruck der sozialstaatlichen Verantwortung und müs- sen weiterhin gewahrt bleiben können. Hier sind klare und eindeutige Definiti- onen sowie Klarstellungen gefordert.
Die Partnerschaft zwischen öffentlicher Verantwortung und gemeinnütziger
Leistungserbringung im Rahmen des sozialrechtlichen Dreieckverhältnisses,
sichert den Zugang und die Vielfalt der Träger und Einrichtungen und gewähr- leistet das Wunsch- und Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger.
Das TTIP unterscheidet bei den Leistungserbringern im Bereich der Gesundheits- und Sozialdienstleistungen zwischen staatlichen Stellen (vom TTIP ausgenommen) und privaten Anbietern (vom TTIP erfasst). Andere Abkommen, wie GATS oder TI- SA, sprechen bisher von „hoheitlichen“ Aufgaben. Damit sind die frei-gemeinnützigen Leistungserbringer und deren besondere Stellung und Auftrag im Leistungserbrin- gungsrecht in Deutschland im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecks nicht erfasst. Es muss aber eine Unterscheidung zwischen in der Zivilgesellschaft verankerten gemeinnützigen Dienstleistern und anderen privaten Dienstleistern geben, wie sie auch in anderen europäischen Zusammenhängen anerkannt ist.
Nach Ansicht der BAGFW sind weitergehende und eindeutige Klarstellungen erforderlich, welche Dienstleistungen vom Anwendungsbereich ausgenommen sind. Grundlage hierfür könnte das Leistungsspektrum der Freien Wohlfahrts- pflege sein, das folgende Bereiche2 umfasst:
- Angebote für Kinder und Jugendliche und ihre Familien, wie Kinderta- geseinrichtungen, Kindertagespflege, Horte, Familienzentren, Schul- und Jugendsozialarbeit, Jugendberufshilfe, Freizeitangebote, offene Kinder- und Jugendarbeit, Kinder- und Jugendberatungsangebote, Bildungs-, Be- ratungs- und Hilfeangebote für alle Familienformen wie Erziehungs-, Ehe- und Schwangerschaftsberatung und die verschiedenen Leistungen der Hil- fen zur Erziehung, Interventionsstellen, Familienpflege, Frauenhäuser, Familienbildungsangebote, Familienerholungsangebote, familienentlasten- de Dienste und Mehrgenerationenhäuser;
- Hilfen für alte Menschen wie Seniorentreffs, Mahlzeiten- und Besuchs- dienste, voll- und teilstationäre Pflegeeinrichtungen , ambulante Pflege- dienste und Wohngemeinschaften sowie Seniorenfreizeit- und Tagesstätten, Einrichtungen des Betreuten Wohnens für ältere Menschen;
- Angebote, Einrichtungen und Dienste für Menschen mit Behinderung wie Kindertageseinrichtungen, Schulen, Sozialpädiatrischen Zentren, Früh- förderstellen, Berufsförderungswerke, Berufsbildungswerke, anerkannte
Werkstätten für behinderte Menschen, betreute Wohnmöglichkeiten, Ta- gesstätten, Tageseinrichtungen, Förderzentren, psycho-soziale Beratungs- stellen, Assistenz- und Unterstützungsangebote durch Integrationsfach-
dienste, mobile sonderpädagogische Teilhabe und Assistenzdienste, fami-
lienunterstützende Dienste, familienentlastende Dienste, Freizeit- und Bil- dungsangebote;
- Angebote und Dienstleistungen im Gesundheitsbereich wie Kranken- häuser, Tageskliniken, ambulante Pflegedienste und Kurzzeitpflegeeinrich- tungen, Mutter-Kind-Kureinrichtungen, ambulante und stationäre Einrichtungen und Angebote der medizinischen Rehabilitation, Kurbera- tungsstellen, Krebsberatungsstellen, Präventions- und Nachsorgeangebo- te, Suchtberatungsstellen, ambulante und stationäre Einrichtungen der Suchthilfe;
2 siehe BAGFW-Gesamtstatistik 2012
- Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund wie gemeinwe- senorientierte Projekte (z.B. zur Schaffung einer Willkommens- und Aner- kennungskultur), spezifische Migrationsfachdienste (z.B. Migrationsberatung für Erwachsene, Jugendmigrationsdienste, Flücht- lingsberatungsstellen) und andere zielgruppenspezifische Flüchtlingspro- jekte, (z. B. Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge, Frauentreffpunkte) und andere handlungsfeldbezogene Integrationsprojekte (IQ Fachstellen etc.), Ausländersozialberatung, Aussiedlerberatung;
- allgemeine Auskunfts- und Sozialberatungsstellen und ambulante Dienste, Nachbarschaftszentren, Suppenküchen und Mobile Soziale Dienste (MSHD);
- Hilfe für Menschen in sozialen Notlagen wie Einrichtungen der Woh- nungslosenhilfe, Angebote für Menschen mit besonderen sozialen Schwie- rigkeiten, Wohnungslosenunterkünfte , Schuldner-Beratung, Bahnhofsmission, Telefonseelsorge;
- Angebote und Dienste der Straffälligenhilfe
- allgemeine Auskunfts- und Sozialberatungsstellen und ambulante Dienste, Nachbarschaftszentren, Suppenküchen und Mobile Soziale Dienste (MSHD);
- Hilfe für Menschen in sozialen Notlagen wie Obdachlosenunterkünfte, Schuldner-Beratung, Bahnhofsmission, Telefonseelsorge;
- Kontakt-, Informations- und Beratungsstellen für Selbsthilfegruppen und Gruppen bürgerschaftlichen Engagements (Freiwilligenzentren und - agenturen);
- Aus-, Fort- und Weiterbildungsstätten für Sozial-, Gesundheits- und
Pflegeberufe;
- Schulische und außerschulische Angebote der Bildung einschließlich der frühen Bildung, etwa in Kindertagesstätten, der Allgemein- und Hoch- schulbildung einschließlich der Arbeit der Studentenwerke sowie der Fort- und Weiterbildung, wie insbesondere Aus-, Fort- und Weiterbildungsange- bote für soziale und pflegerische Berufe.
Gemeinnützigkeit
Die gemeinnützigen Dienste der Freien Wohlfahrtspflege erfüllen einen besonderen Gemeinwohlauftrag und tragen durch effiziente Angebote im Interesse der Nutzerin- nen und Nutzer zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts bei und erbringen eine beträchtliche wirtschaftliche Leistung. Sie stärken den sozialen Zusammenhalt au- ßerdem durch Partizipationsangebote und bürgerschaftliches Engagement. Als ge- meinnützige Akteure der Zivilgesellschaft leisten sie einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft.
Die BAGFW erwartet, dass die Möglichkeit, gemeinnützige Dienste öffentlich zu finanzieren und gemeinnütziges Handeln durch einen besonderen steuer- rechtlichen Status anzuerkennen, auch künftig gesichert ist und nicht im Rah- men von weiteren Regulierungsmaßnahmen als diskriminierend ausgelegt werden kann.
Öffentliche Auftragsvergabe
Die neuen, am 28.03.2014 im Amtsblatt L 94 der EU veröffentlichten, Richtlinien zur öffentlichen Auftragsvergabe (2014/24/EU) und über die Konzessionsvergabe (2014/23/EU) werden derzeit in nationales Recht umgesetzt. Die Richtlinien erken- nen Sonderregelungen bei der Dienstleistungserbringung für „soziale und andere besondere Dienstleistungen“ an. Mitgliedstaatliche Verfahren, die einen allgemeinen, nichtdiskriminierenden Zulassungsanspruch von Leistungserbringern und Einrich- tungsträgern begründen, werden nicht als Auftragsvergabe verstanden. Die Mitglied- staaten werden zudem nicht verpflichtet, die Erbringung von Dienstleistungen an Dritte oder nach außen zu vergeben, wenn sie diese Dienstleistungen selbst erbrin- gen oder die Erbringung durch andere Instrumente als öffentliche Aufträge im Sinne dieser Richtlinie organisieren möchten.
Dienstleistungen im Bereich des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen durchgeführt werden, sind explizit vom Anwendungsbereich der Richtlinien ausge- nommen, siehe Art. 10 lit. h) der Vergaberichtlinie und dem fast wortidentischen Art.
10 Abs. 8 lit. g). Dazu gehört auch der Rettungsdienst, für den die in den Richtlinien festgelegten Verfahren also nicht gelten sollen.
Die BAGFW erwartet, dass etwaige Vereinbarungen zur Vergabe im Freihan- delsabkommen diese Besonderheiten allgemeiner Zulassungsverfahren be- rücksichtigen, wie sie etwa auch im deutschen Sozialrecht und dem sozialrechtlichen Dreieck zur Geltung kommen.
Ferner erwartet die BAGFW, dass die in den Richtlinien statuierten Bereichs- ausnahmen für von gemeinnützigen Organisationen durchgeführte Rettungs- dienste/Notfalldienste auch im Text des Freihandelsabkommens aufgenommen werden.
Verankerung im lokalen Gemeinwesen
Soziale Dienstleistungen werden üblicherweise auf lokaler Ebene erbracht und sind eingebunden in die lokale Infrastruktur. Dies wird auch in den europäischen Binnen- marktregeln (Beihilferecht) weitgehend anerkannt und respektiert.
Die BAGFW erwartet, dass die Beihilferegeln für soziale Dienstleistungser- bringung nicht als diskriminierende Hemmnisse ausgelegt und nicht Gegen- stand von Streitbeilegungsverfahren werden können.
Regulierungen und Festlegung qualitativer Standards
Im Rahmen des vorgesehenen Regulierungsrates soll auch über die Weiterentwick- lung von Standards beraten werden. Die Erbringung von Dienstleistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich unterliegt jedoch gesetzlichen Vorgaben und Regulierun- gen, etwa hinsichtlich der Qualität der Leistung.
Die BAGFW lehnt aus demokratietheoretischen und Transparenzgründen ein solches Regulierungsgremium ab. Die Festlegung von Standards für die Er-
bringung sozialer Dienstleistungen muss in der nationalen Kompetenz verblei- ben. Sollte sich jedoch ein solches Gremium in den Verhandlungen durchset- zen, plädieren wir dafür, nur solche Aspekte auf die Agenda der Gespräche in einem kooperativen Regulierungsgremium zu nehmen, die sich ausschließlich auf technische Produktstandards beziehen und sich auf einem untergesetzli- chen Niveau befinden.
Die BAGFW erwartet, dass entsprechende Vereinbarungen durch das Verfah- ren der gegenseitigen Anerkennung und durch Entscheidungen des vorgese- henen Regulierungsrates nicht ausgehöhlt werden können.
Investorenschutz und Streitbeilegung
Mit dem Verfahren zur externen Streitbeilegung wird eine Parallelstruktur zu der be- stehenden ordentlichen Gerichtsbarkeit geschaffen. Die angedachten Ergänzungen, wie der Berufungsmechanismus, Orientierungshilfen, Präventivmaßnahmen oder Verhaltensregeln sind nicht dazu angetan, die bewährten Instrumente der ordentli- chen Gerichtsbarkeit zu ersetzen.
Die BAGFW lehnt das Konzept der externen Streitbeilegung im EU-US Frei- handelsabkommen ab. Die Einführung einer eigenständigen Schiedsgerichts- barkeit ist wegen der entwickelten und funktionierenden Rechtsschutzsysteme der Vertragsparteien nicht erforderlich.