Der Deutsche Behindertenrat (DBR), die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) sowie die Fachverbände für Menschen mit Behinderung (die Fachverbände) haben die Erwartung, dass in der 18. Legislaturperiode ein neues Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen geschaffen und in Kraft gesetzt wird. Dieses muss die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention in das deutsche Leistungsrecht überführen und daher eine klar menschenrechtlich basierte und sozialpolitische Ausrichtung haben.
Der DBR, die BAGFW sowie die Fachverbände halten es gemeinsam für erforderlich, dass das Bundesteilhabegesetz Bestandteil eines novellierten SGB IX wird.
Der im Sommer 2012 im Rahmen des Fiskalpaktes ausgehandelte und mit dem Koalitionsvertrag 20131 bekräftigte Einstieg des Bundes in die Finanzierung der Leistungen muss nunmehr tatsächlich erfolgen, ohne dass jedoch fiskalische Aspekte die sozialpolitisch-inhaltlich dringend notwendige Reform dominieren. Vor diesem Hintergrund sehen die benannten Akteure das Grundlagenpapier vom August 20122 sowie den von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) 2013 angenommenen Bericht der Länderarbeitsgruppe3 nicht als geeignete Basis für eine solche Reform an.
Ziel eines Bundesteilhabegesetzes muss nach übereinstimmender Ansicht von DBR, BAGFW und den Fachverbänden die volle und wirksame Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen sein, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben.
Entsprechend dem Partizipationsgebot der UN-Behindertenrechtskonvention sind Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen und Verbände in die Entwicklung und Umsetzung eines Bundesteilhabegesetzes aktiv einzubeziehen. Hierfür bedarf es zeitnah verbindlicher, prozessgestaltender Vorbereitungen und Absprachen.
Im Rahmen des Erarbeitungsprozesses sind für den DBR, die BAGFW sowie die Fachverbände folgende inhaltliche Ausgestaltungen für ein Bundesteilhabegesetz unverzichtbar:
- Die Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe sind – im Sinne eines Nachteilsausgleiches – aus dem Bereich der Fürsorge herauszulösen und als Teilhabeleistung in das neue Bundesteilhabegesetz zu überführen. Sie sind einkommens- und vermögensunabhängig zu erbringen.
- Die Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe müssen auch zukünftig als Bestandteil der Teilhabeleistungen bedarfsdeckend erbracht werden. Das Bundesteilhabegesetz muss einen weiten sowie offenen Leistungskatalog enthalten, der sicherstellt, dass keine Leistungslücken entstehen. Denn das Recht auf Teilhabe erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und Lebensphasen. Zu unterbleiben haben daher auch benachteiligende Regelungen, die pauschal an das Alter der Leistungsberechtigten anknüpfen. Die Verwirklichung des Rechts auf Teilhabe erfordert insbesondere die Bereitstellung der individuell benötigten personellen (vor allem Assistenz und Betreuung bzw. Begleitung), technischen (u.a. Hilfsmittelversorgung, Wohnanpassung und Kfz-Hilfe) sowie fachlich anleitenden Hilfen (etwa Schulungen in lebenspraktischen Fähigkeiten, Gebärdensprachkurse).
- Das Wunsch- und Wahlrecht für eine selbstbestimmte Lebensführung und der Rechtsanspruch auf Teilhabe in allen Lebensbereichen für Menschen mit Behinderungen dürfen nicht eingeschränkt werden. Insbesondere muss die freie Wahl des Wohnorts und der Wohnform gesetzlich normiert werden. Der bestehende Mehrkostenvorbehalt ist ersatzlos zu streichen. Teilhabe hat Vorrang vor Kostensteuerung.
- Zur Umsetzung personenzentrierter Teilhabeleistungen ist ein Rechtsanspruch auf plurale, prozesshafte und barrierefreie Beratung zu verankern; hierbei ist die Beratung durch Selbstbetroffene zu fördern. Diese Beratung darf nur dem Ratsuchenden gegenüber verpflichtet sein und tritt neben die Beratungspflicht der Leistungsträger. Zur Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensführung sind zudem barrierefreie und verständliche Informationen über Rechte und Rechtsansprüche zu etablieren.
- Der Zugang zu den Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe muss individuell und partizipativ ausgestaltet werden sowie über bundeseinheitliche Verfahrensschritte zur Bedarfsfeststellung erfolgen. Eine zukünftige ICF- basierte leistungsrechtliche Begriffsdefinition muss den erweiterten menschenrechtlichen Behinderungsbegriff der UN- Behindertenrechtskonvention aufgreifen und im Sinne der Teilhabebeeinträchtigung die Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren berücksichtigen. Instrumente zur Ermittlung des individuellen Teilhabebedarfs müssen zudem diskriminierungsfrei ausgestaltet werden und stigmatisierungsfreie Befragungen gewährleisten.
- Ergänzend zu den individuell erforderlichen und erfassbaren Teilhabeleistungen ist als weiterer Nachteilsausgleich in einem Bundesteilhabegesetz eine pauschalierte Geldleistung vorzusehen, wie dies das geltende Recht beispielsweise mit dem Landesblinden-, dem Sehbehinderten- sowie dem Gehörlosengeld derzeit schon kennt. Diese Geldleistung soll vor allem das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie der Leistungsberechtigten stärken, aber auch ein Ausgleich für in der Leistungsbemessung des Teilhaberechts nicht oder nur schwer spezifizierbare Bedarfe sein. Sie dient nicht dem Einkommensersatz und darf daher weder als Einkommen oder Vermögen bei der Bemessung anderer Sozialleistungen, noch im übrigen Rechtssystem als einzusetzendes Einkommen und Vermögen berücksichtigt werden.
1) Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode zwischen CDU, CSU und SPD „Deutschlands Zukunft gestalten“
2) Grundlagenpapier zu den Überlegungen der Bund?Länder?Arbeitsgruppe „Weiterentwicklung der
Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen“ der ASMK vom 23.08.2012
3) Bericht der Länderarbeitsgruppe für die ASMK zu einem Bundesleistungsgesetz gemäß ASMK?Beschluss vom
27./28.11.2013