Vorbemerkung
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten NRP-Entwurf 2015. Sie weist jedoch wiederholt darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft, von der in Ziffer 118 des NRP-Entwurfes die Rede ist, zu knapp bemessen ist. Der für den 19. Februar 2015 angekündigte Entwurf des NRP wurde mit einer Rückmeldefrist bis zum 03. März 2015 erst am 23. Februar versandt. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang sowohl auf ihre Stellungnahmen zum Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2014 und zum Entwurf des Nationalen Sozialberichts 2015 als auch auf die Anmerkungen und Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW) zur Fortschreibung des Nationalen Sozialberichts 2015.
Im Folgenden nimmt die BAGFW zur Umsetzung der sozialpolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 im Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2015 Stellung.
Wir gehen dabei insbesondere auf die drei sozialpolitischen Kernziele
- Beschäftigung fördern
- Bildungsniveau verbessern
- Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
und die länderspezifischen Empfehlungen des Rates zum NRP Deutschlands 2014 ein.
Da die Ausführungen im Entwurf des NRP 2015 zum „Wettbewerb im Dienstleistungssektor und öffentlichen Auftragswesen“ die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland betreffen, nimmt die BAGFW ebenfalls dazu Stellung.
1. „Europa 2020-Strategie: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“ „Beschäftigung fördern – Nationaler Beschäftigungsplan“
(Ziffern 77 - 81)
Bewertung:
Deutschland (DE) hat sich in seinem NRP zu den drei sozialpolitischen EU 2020-Kernzielen mit den folgenden nationalen Indikatoren (abweichend von den EU-weiten Indikatoren) verpflichtet:
- Erwerbstätigenquote für 20- bis 64-Jährige: 77%
- Erwerbstätigenquote für Ältere zwischen 55 und 64 Jahren: 60%
- Erwerbstätigenquote für Frauen: 73%
Alle drei Indikatoren hat DE im 3. Quartal 2014 (über-)erfüllt.
Die Sozialwirtschaft kann aufgrund des demografischen Wandels und dem zusätzlichen Bedarf an Personal zur Stabilisierung der Erwerbstätigenquote einen signifikanten Beitrag erbringen. Für die weitere Steigerung der Erwerbstätigenquote der Frauen ist es wichtig, dass die Angebote zur Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder in der Fläche ausreichend und qualitätsgerecht ausgebaut werden.
Die BAGFW regt für das NRP 2015 an, die beruflichen Förderangebote für Frauen weiter zu entwickeln, indem auch das Angebot für Teilzeit-qualifizierungen ausgebaut wird.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2014 wird u. a. empfohlen, dass Deutschland:
- die Vermittelbarkeit von Arbeitnehmern verbessert, indem das Bildungsniveau benachteiligter Gruppen weiter erhöht wird und auf dem Arbeitsmarkt ehrgeizigere Aktivierungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen durchgeführt werden, insbesondere für Langzeitarbeitslose; …
- die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen erleichtert;
- regionale Engpässe bei der Verfügbarkeit von ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen in Angriff nimmt und gleichzeitig deren allgemeine Bildungsqualität verbessert (s. dazu (2014/C 247/23).
Das Arbeitspapier der KOM zu den länderspezifischen Empfehlungen konstatiert bisher nur begrenzte Fortschritte bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen (s. dazu SWD (2014), 406 final).
Rund 1 Mio. oder 38,6% der offiziell gemeldeten Arbeitslosen in Deutschland im Oktober 2014 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit langzeitarbeitslos und hatten damit deutlich geringere Chancen auf eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt als kurzzeitig Arbeitslose. Aufgrund der insgesamt sinkenden Arbeitslosenzahlen steigt damit der prozentuale Anteil der Langzeitarbeitslosenzahlen. In absoluten Zahlen ist nur ein geringer Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen, wobei der Anteil der Arbeitslosen, die seit 24 Monaten oder länger arbeitslos sind, signifikant steigt. Besondere Risikofaktoren sind insbesondere höheres Alter (55+) und eine fehlende Berufsausbildung. Langzeitarbeitslose mit vier und mehr sogenannten Vermittlungshemmnissen haben derzeit kaum eine Chance auf eine Arbeitsmarktintegration. Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2013 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 18 % an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt.
Die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl die damit verbundenen Probleme im Berichtszeitraum bundespolitisch und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sind. Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2015 wird auf das besorgniserregende Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland verwiesen: „While the unemployment rate is overall low (5.0 % in 2014), it exceeds 10 % in several federal states and long-term unemployment is an increasing concern.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 63) … „Long-term unemployment is an icreasing concern and it is still at a high level.“ (s. SWD(2015) 25 final, S. 64) Ganz unbestritten gibt es nach wie vor eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Als erwerbsfähig gelten derzeit über 3 Millionen Langzeit-Leistungsbeziehende. Die Hälfte von diesen lebt mit weiteren Personen, die nicht erwerbsfähig sind (zu 95 Prozent Kinder) in Bedarfsgemeinschaften. Besonders kritisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ende 2012 zwei Drittel der mehr als 4 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bereits über zwei Jahre im Leistungsbezug waren; jede(r) vierte sogar durchgängig seit 2005.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehern und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Um langfristige Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen auch wirksam genutzt werden können. Die BAGFW regt langfristige, gezielte und kleinschrittige Hilfen für Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen an. Die BAGFW stimmt der Europäischen Kommission in der Bewertung des NRP 2014 zu, dass das im Entwurf des NRP 2015 erneut aufgeführte ESF-Programm zur Wiedereingliederung von 30.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt und einige Maßnahmen für junge Menschen weiterer nationaler Anstrengungen bedürfen.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-angebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden (s. dazu auch die Ausführungen zum Thema ‚Soziale Eingliederung vor allem durch Armutsbekämpfung fördern‘). Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit und des andauernden Hilfebezugs im SGB II sieht die BAGFW die Initiative der Bundesarbeitsministerin „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom ‚Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 10.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Aktiv-Passiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
In den länderspezifischen Empfehlungen 2014 hat der Rat der EU erneut empfohlen, die Umwandlung von Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen zu erleichtern. Atypische Beschäftigung in Deutschland existiert jedoch trotz eines leichten Rückgangs weiterhin auf einem hohen Niveau. Dazu zählen Minijobber, Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Teilzeitarbeiter.
Die BAGFW empfiehlt, sich im NRP 2015 gezielter mit dem Thema atypische Beschäftigung auseinanderzusetzen.
2. „Bessere Willkommens- und Bleibekultur in Deutschland“
(Ziffer 84 des vorgelegten NRP-Entwurfes 2015)
Eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote in Deutschland wird aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise auch durch eine zunehmende Zuwanderung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland erreicht, die durch das Recht auf Freizügigkeit ermöglicht wird.
Der Wanderungssaldo bleibt wie in den Vorjahren auf hohem Niveau (s. Statistisches Bundesamt, Statistische Wochenberichte, Stand: 20.02.2015 und Entwurf NRP 2015, S. 6).
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger/innen zu den großen Errungenschaften der EU.
Dieses Recht darf nicht einfach in Frage gestellt werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedsstaaten, die sich in der Krise befinden, es aktiv nutzen, um ihre soziale Situation und Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt zu verbessern.
Auch sie müssen eine Chance auf dem gesamten Europäischen Arbeitsmarkt erhalten. Wanderungen auch von mittellosen EU-Bürger/innen sind logischer Bestandteil der Personenfreizügigkeit. Alles andere wäre eine unzulässige Diskriminierung von in Armut Lebenden und mit dem europäischen Gedanken nicht vereinbar.
Die von der Bundesregierung verfolgte Strategie zur Stärkung der Willkommens- und Bleibekultur hat sich deshalb an alle Menschen, die nach Deutschland zuwandern, zu richten.
3. „D. Bildungsniveau verbessern“
(Ziffern 100 - 101)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP zum Erreichen des folgenden EU-weiten Indikators verpflichtet:
- Bildungsniveau verbessern, insbesondere den Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger auf unter 10% senken
Obwohl der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2013 mit 9,9 Prozent insgesamt unter der Zielmarke von 10 Prozent lag, gibt es signifikante regionale Unterschiede. Außerdem stellt die Europäische Kommission in der Begleitunterlage zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates fest: „Deutschland konnte bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen einige Fortschritte verzeichnen, doch der Bildungserfolg ist nach wie vor stark von der sozioökonomischen Herkunft abhängig. Die sozial bedingte Bildungsbenachteiligung hat im letzten Jahrzehnt abgenommen, bleibt aber signifikant, insbesondere bei Menschen mit Migrationshintergrund.“ (s. SWD(2014) 406 final, S. 22)
In den Erhebungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder auf Basis des Mikrozensus 2013 wird festgestellt, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss in Ostdeutschland fast doppelt so hoch ausfällt wie in Westdeutschland. Hier besucht auch ein weitaus höherer Anteil der Schüler/innen als in Westdeutschland eine Förderschule und erwirbt dort häufig höchstens einen Förderabschluss. Betrachtet man hingegen den Anteil der frühen Schul- und Ausbildungsabgänger/innen, also den EU-2020 Leitindikator, zeigt sich das umgekehrte Bild. Dies liegt vor allem daran, dass in Westdeutschland weniger junge Menschen einen beruflichen Abschluss erwerben als in Ostdeutschland. Der Caritas-Studie “Bildungschancen vor Ort“ aus dem Jahr 2014 zufolge ist die Quote der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss zwar deutschlandweit von rund 7% im Jahr 2009 auf rund 6% im Jahr 2012 gesunken. Es bestehen aber starke regionale Streuungen der Quoten: zwischen 4,6 % in Bayern und 11,1 % in Sachsen-Anhalt (s. dazu <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen), (s. auch „Bildung in Deutschland 2014“).
Außerdem besteht nach wie vor ein negativer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg: je geringer die sozialen Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen sind, desto höher ist das Risiko des Scheiterns im Bildungssystem.
Die BAGFW sieht hier weiterhin großen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen.
Die BAGFW erachtet noch stärkere Anstrengungen für notwendig, um den Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft zu durchbrechen. Diese Ansicht steht auch in Einklang mit den länderspezifischen Empfehlungen, die die Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Bevölkerungsgruppen anmahnt, indem vor allem die Chancengleichheit im allgemeinen und beruflichen Bildungssystem sichergestellt wird. Diese Anstrengungen sollten auch vor dem Hintergrund “Nutzung des vollen Arbeitskräftepotenzials“ ihren Niederschlag im NRP 2015 (s. Ziffer 50 im Entwurf NRP 2015, S. 21) finden.
Der Rat der Europäischen Union empfiehlt, „dass Deutschland regionale Engpässe bei der Verfügbarkeit von ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen in Angriff nimmt und gleichzeitig deren allgemeine Bildungsqualität verbessert“. Die BAGFW greift diese Empfehlung auf und fordert von der Bundesregierung, dieser Empfehlung im NRP 2015 mehr Bedeutung beizumessen und die Anstrengungen zu verstärken (s. (2014/C 247/23).
Die Europäische Kommission stellt in der Begleitunterlage zur Empfehlung für eine Empfehlung des Rates fest, dass beim Anteil der Kinder unter drei Jahren, die Betreuungseinrichtungen besuchen, Deutschland weder die Barcelona- noch die nationalen Ziele erreicht hat. „Während die Anzahl der Kinderbetreuungseinrichtungen rasch gewachsen ist, sollte auch ihre Qualität verbessert werden, etwa durch einen besseren Betreuungsschlüssel, die Anhebung des Qualifikationsniveaus des Personals und verlängerte Öffnungszeiten.“ (s. SWD(2014) 406 final, S. 22) Vergleichbares gilt für den Ausbau und die Qualität der Ganztagsschulen.
4. „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“
(Ziffern 102 – 107)
Bewertung:
Deutschland hat sich in seinem NRP dem folgenden nationalen Indikator verpflichtet:
- Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis 2020 um 20% gegenüber 2008 verringern
Laut dem NRP-Entwurf 2015 hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und dem dritten Quartal 2014 um 44 % verringert, d.h. der national gesetzte Indikator wurde bereits erreicht.
Der absolute Rückgang der Langzeiterwerbslosigkeit ist zwar positiv zu sehen, jedoch nicht deckungsgleich mit der Reduzierung von Armutsrisiken in Deutschland.
Sorge bereitet die Entwicklung des Armutsrisikos. Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und die Zunahme privaten Reichtums führen nicht mehr dazu, dass das Armutsrisiko in Deutschland geringer wird; sondern das Armutsrisiko und Ungleichheit nehmen zu. Der Ausschuss für Sozialschutz hat den Nationalstaaten zur Erstellung ihrer Strategischen Sozialberichterstattung empfohlen, Daten zur sozialen Situation heranzuziehen, die aktueller als die der EU-SILC sind. Nach der Auswertung des Mikrozensus ergibt sich dieses Bild: Die Armutsrisikoquote ist seit dem Jahr 2006 – mit Unterbrechungen in den Jahren 2010 und 2012 auf einen Wert von 15,5 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Rund 12,5 Millionen Menschen waren damit in diesem Jahr in Deutschland vom Risiko der Einkommensarmut betroffen. Dabei haben sich die Arbeitslosenzahlen und Armutsrisikoquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt, sondern sich entgegengesetzt entwickelt. Während die Armutsrisikoquote seit 2006 relativ kontinuierlich um 10,7 Prozent angestiegen ist – von 14 Prozent auf 15,5 Prozent – ist die Arbeitslosenquote mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 ebenso kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8 Prozent auf 6,9 Prozent) gesunken.
Die Bundesregierung erklärt, dass die Altersarmut trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren nach wie vor klein sei und kein verbreitetes Problem darstellt. Die BAGFW weist darauf hin, dass die 65-Jährigen und Älteren in 2013 mit einer Quote von 14,3 Prozent noch genauso unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen waren wie die Gruppe der Rentner und Pensionäre mit einer Armutsrisikoquote von 15,2 Prozent. Allerdings gibt es starke Zuwächse seit 2006. Seitdem nahm das Armutsrisiko unter den 65-jährigen und Älteren um 37,5 Prozent und das der Rentner und Pensionäre um sogar 47 Prozent zu. Dabei ist die Armutsrisikoquote von Frauen im Seniorenalter um einige Prozentpunkte höher als die von Männern. Sie sind überdurchschnittlich von Armut bedroht. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Trend gestoppt wird. Die BAGFW merkt kritisch an, dass im vorliegenden Bericht keine Pläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Altersarmut dargestellt werden.
Angesichts dieser Lagebeschreibung fordert die BAGFW die deutsche Bundesregierung dazu auf, im Bereich der Armutsbekämpfung ihre Aktivitäten neu auszurichten, um eine umfassende Bekämpfung der zunehmenden Armutsgefährdung von Personen zu gewährleisten.
Die BAGFW regt an, dass neben dem national gewählten Armutsindikator: niedrige Erwerbsbeteiligung (gemessen am Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben) die beiden anderen Indikatoren: die relative Einkommensarmut (gemessen wie bisher an der sog. Armutsgefährdungsrate) und die materielle Armut (gemessen am Index der materiellen Deprivation) bei der Ausrichtung einer umfassenden Armutsbekämpfungsstrategie berücksichtigt werden.
Zur Armutsbekämpfung hilft aber eine primär an kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Zielen ausgerichtete Sozialpolitik nicht weiter. Der langfristige Bezug von SGB-II-Leistungen erklärt sich nicht allein aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus Sachverhalten wie Teilzeitarbeit und niedrigen Löhnen (rund 1,2 Millionen Aufstockende im SGB II). Das Arbeitseinkommen und/oder dem SGB II vorgelagerte familienpolitische Leistungen reichen oft nicht aus, um den Leistungsbezug zu verhindern (600.000 Alleinerziehende und über 1,5 Millionen Kinder beziehen SGB-II-Leistungen).
Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Methodenbericht aus dem Juni 2013 bezogen 18,5 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Jahren 2008 bis 2011 dauerhaft oder zeitweilig Leistungen nach dem SGB II. Trotzdem galten nur 1/3 der Leistungsbeziehenden im SGB II als arbeitslos. Teilnehmende an Maßnahmen, Zuverdienende, ältere Erwerbslose und weitere Personengruppen werden in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt. Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der sozialen Situation von Langzeit-Leistungsbeziehenden müssen mit einer Stärkung der dem Grundsicherungsbezug vorgelagerten Systeme einhergehen. Die BAGFW schlägt vor, weitere sozialpolitische Schwerpunkte zu setzen.
Die Wohlfahrtsverbände begrüßen die Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds‘ für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Freien Wohlfahrtspflege bei seiner Ausgestaltung. Der Hilfsfonds ist auf die Zielgruppen EU-Zuwanderer, deren Kinder im Vorschulalter sowie auf Wohnungslose fokussiert. Die BAGFW hat sich dafür eingesetzt, dass darüber hinaus weitere benachteiligte nationale Zielgruppen, wie z.B. Suchterkrankte oder Straffällige jetzt oder zukünftig in einem solchen Programm zu berücksichtigen sind.
In Ziffer 107 des NRP-Entwurfes wird auf weitere Maßnahmen der Bundesregierung zur sozialen Eingliederung und der Bekämpfung von Armut auf den NSB 2015 verwiesen, der aber als Teil der Offenen Methode der Koordinierung zu verstehen ist und keine verbindlichen Auswirkungen auf die nationale Strategie zur Armutsreduzierung in Deutschland hat.
Die BAGFW spricht sich dafür aus, dass die Armutspolitik im NRP weiter behandelt wird und Ansätze einer umfassenden Strategie der Armutsverringerung für betroffene Zielgruppen entwickelt werden und verweist ihrerseits auf die Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf des NSB 2015.
5. „Wettbewerb im Dienstleistungssektor und öffentliches Auftragswesen“
(Ziffern 65 – 68)
Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Anliegen, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu stärken und sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, gerechtfertigte und verhältnismäßige Regulierungen zu ergreifen, die z.B. die Qualität einer Dienstleistung, die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen oder soziale und gesundheitspolitische Zwecke sichern. Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftragswesen wird auf die Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien in nationales Recht verweisen.
Zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien in nationales Recht zur Vergabe von sozialen Dienstleistungen hat das Bundeswirtschaftsministerium die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege frühzeitig in einen intensiven und sehr konstruktiv verlaufenden Diskussionsprozess einbezogen. Die Wohlfahrtsverbände haben dabei deutlich gemacht, dass dringend Verbesserungen bei der der Vergabe von sozialen Dienstleistungen, insbesondere Arbeitsmarktdienstleistungen, nötig sind.
• Die Wohlfahrtsverbände werben insbesondere dafür, gesonderte Vergaberegelungen für die Maßnahmen der Arbeitsförderung zu schaffen, denn sie haben als personenbezogene Dienstleistungen einen anderen Charakter als z.B. die im Vergabeverfahren beschafften Baumaßnahmen oder Fahrgastzüge. Auch die EU erkennt sowohl die Besonderheit von sozialen Dienstleistungen als auch die Notwendigkeit an, bei der Ausschreibung solcher Dienstleistungen das ansonsten streng formale Vergaberechtsregime zu modifizieren. Artikel 76 RL 2014/24/EU konkretisiert dies und verpflichtet in Absatz 1 die Mitgliedsstaaten dazu, das Vergaberecht für die Ausschreibung von Sozialleistungen – soweit diese überhaupt stattfinden sollen – entsprechend dem besonderen Charakter dieser Dienstleistungen zu modifizieren.
• Die unterschiedlichen Verfahrensarten des Vergaberechts sollen zukünftig gleichberechtigt nebeneinander stehen und von den Vergabestellen flexibel eingesetzt werden, um bedarfsgerecht Maßnahmen bereitzustellen. Das dialogische Verfahren soll neu eingeführt werden als Möglichkeit, besonders innovative oder zielgruppenspezifische Maßnahmen kreieren und sie gemeinsam zwischen Jobcentern/bzw. Arbeitsagenturen und Trägern der Arbeitsförderung entwickeln zu können. Der Anwendungsbereich des nicht offenen Verfahrens sollte eröffnet werden, um kurzfristig auftretende bzw. bekannt gewordene Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zu decken. Das nicht offene Verfahren kann zudem die Möglichkeit eröffnen, eine qualitative Vorauswahl von Bietern/Angeboten im Wettbewerb vorzunehmen.
• Im Vergabeverfahren müssen angemessene Löhne der Mitarbeiter/-innen zukünftig Berücksichtigung finden und maßgeblich sein.
• Die Vergaben müssen zukünftig auf langfristige Rahmenverträge mit den Anbietern abzielen, damit Qualität durch Kontinuität geschaffen werden kann.
• Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege plädiert außerdem dafür, die Möglichkeiten des Art. 20 RL 2014/24/EU besonders aufzugreifen, mit dem eine bevorzugte Auftragsvergabe an Unternehmen zum Zweck der Beschäftigung von benachteiligten Zielgruppen möglich wird. Die bevorzugte Auftragsvergabe an diese Unternehmen trägt dem Anliegen der EU-Richtlinie Rechnung, die soziale und berufliche Eingliederung für unterschiedliche Personenkreise, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft benachteiligt sind, zu befördern. Über die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hinausgehend sollen entsprechende Regelungen im deutschen Vergaberecht auch für Integrationsbetriebe und Sozialunternehmen zur Beschäftigung von benachteiligten Personengruppen gelten.
• Bei der Umsetzung der Richtlinie in das deutsche Recht muss nicht zuletzt beachtet werden, dass die Erbringung sozialer Dienstleistungen in Deutschland ganz überwiegend im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses und damit außerhalb der öffentlichen Auftragsvergabe erfolgt. Der Wettbewerb erfolgt hier über das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten. Das sozialrechtliche Dreieck aus Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem ist eine tragende Säule der sozialen Sicherung, denn es verbindet die staatliche Verantwortung für die Erbringung sozialer Dienstleistungen mit weitgehenden Wahlrechten für die Hilfebedürftigen und Gestaltungsrechten für die freien Träger. Das europäische Vergaberecht stellt es den Mitgliedstaaten im Übrigen frei, soziale Dienstleistungen in einer Weise zu organisieren, die nicht mit der Vergabe öffentlicher Aufträge verbunden ist. Dass die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit grundsätzlich nicht angetastet werden sollen, ist in Art. 1 Abs. 5 und im Erwägungsgrund (114) der Richtlinie 2014/24/EU niedergelegt.