Mit dem Entwurf eines Beitragssatzanpassungsgesetzes soll der Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung zum 1. Januar 2019 um 0,5 Prozentpunkte auf insgesamt 3,05 Prozentpunkte angehoben werden. Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) kooperierenden Spitzenverbände halten die Erhöhung des Beitragssatzes, mit der die Einnahmebasis der sozialen Pflegeversicherung um rund 7,6 Mrd. Euro jährlich erhöht wird, für dringend erforderlich. Dieses Finanzvolumen ist notwendig, um die Mehrausgaben zu finanzieren, die sich aus der Erweiterung des leistungsberechtigten Personenkreises infolge der Einführung des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit dem Zweiten Pflege-Stärkungsgesetz ergeben haben. Durch den Anstieg der Anzahl der Leistungsempfänger/innen von jährlich zwischen 130.000 bis 160.000 Personen und eine veränderte Inanspruchnahme von Leistungen ist in der Pflegeversicherung ein Defizit von ca. 3,5 Mrd. Euro entstanden, das unverzüglich kompensiert werden muss.
Der Anstieg der Zahl der Leistungsempfänger/innen ist allerdings nicht erst seit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu verzeichnen: Bereits seit 2008 sind die Leistungsausgaben vor allem im ambulanten Bereich kontinuierlich angestiegen. Dieser Effekt ist auf die demographische Entwicklung zurückzuführen. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich deshalb schon seit langem dafür ein, dass einer guten Versorgung pflegebedürftiger Menschen in einer älter werdenden Gesellschaft ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Dazu gehört ein auskömmliches Finanzierungsvolumen.
Mit dem Beitragssatzanpassungsgesetz sollen nicht nur entstandene Defizite in der Pflegeversicherung ausgeglichen, sondern auch die Kosten für im Koalitionsvertrag vereinbarte Maßnahmen auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt werden. Nach Einschätzung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege reicht die Anhebung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte nicht aus, um die notwendigen Verbesserungen gegenfinanzieren zu können. Wir begrüßen nachdrücklich, dass die Regierungskoalition eine kontinuierliche Anpassung der Sachleistungsbeträge, die wir für kurzfristig notwendig erachten, sowie weitere Entlastungen pflegender Angehöriger in Aussicht gestellt hat. Schon in den beiden vergangenen Legislaturperioden haben wir uns für die Einführung eines sog. „Entlastungsbudgets“ für pflegebedürftige Menschen und ihre An- und Zugehörigen eingesetzt, wie dies im Koalitionsvertrag nun vorgesehen ist. Ein solches Entlastungsbudget soll nach Auffassung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege Entlastungsleistungen wie Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, die Unterstützungsangebote im Alltag und perspektivisch auch die Tagespflege zusammenfassen, sodass die einzelnen Leistungen flexibler und individuell passgenau abgerufen werden können. Laut Koalitionsvertrag soll auch die solitäre Kurzzeitpflege auf- und ausgebaut werden, wofür sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ebenfalls einsetzen. Auch die Möglichkeit des Flexirentengesetzes für pflegende Angehörige, ihre Vollrente auf eine Teilrente zu reduzieren, um zusätzliche Rentenpunkte durch die Pflege ihrer Angehörigen zu erwerben, was wir nachdrücklich unterstützen, entfaltet eine Kostenrelevanz.
Des Weiteren wurden durch das Pflege-Personalstärkungsgesetz (PpSG) viele Maßnahmen eingeführt, welche die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nachdrücklich begrüßen, deren Kosten jedoch zu refinanzieren sind: So betragen die Leistungsausgaben in Folge des PpSG im Jahr 2019 rund 240 Mio. Euro, im Jahr 2020 rund 260 Mio. Euro, 2021 rund 250 Mio. Euro und 2022 rund 150 Mio. Euro.
Addiert man die Leistungsausgaben, die bereits entstanden sind und die Kosten, die perspektivisch durch die Umsetzung des Koalitionsvertrags entstehen werden, wird deutlich, dass das Finanzvolumen von 7,6 Mrd. Euro, das durch die Beitragssatzerhöhung entsteht, schon bald vollständig ausgeschöpft sein wird. Der Beitragssatz kann laut Gesetzentwurf durch die Erhöhung nur bis zum Jahr 2022 stabil gehalten werden. Bereits in der letzten Legislaturperiode musste der Beitragssatz um 0,5 Prozentpunkte angehoben werden, um die Leistungen zu finanzieren. Gleichzeitig fehlt ein Gesamtkonzept für die Finanzierung der Pflege und der Pflegeversicherung in einer älter werdenden Gesellschaft. Die Beitragssatzsteigerungen gehen gegenwärtig allein zu Lasten der Arbeitskosten.
Leistungsverbesserungen und eine bessere Personalausstattung in der Pflege inklusive der Anwendung einer flächendeckenden tariflichen Entlohnung erfordern eine nachhaltige Sicherung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung. Aus Sicht der der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege muss die Einnahmebasis in der Pflegeversicherung verbreitert werden.
Ein solches Konzept sollte folgende Elemente beinhalten:
- Eine solidarische und paritätische Finanzierung: Dazu soll die Beitragsbemessungsgrenze bis auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung angehoben werden.
- Ein einheitliches Versicherungssystem mit risikounabhängiger Kalkulation der Beiträge bzw. Prämien und einheitlichen Rahmenbedingungen für alle Anbieter. Wie von der LINKEN gefordert, sollen somit alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland das Recht haben, zu den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung versichert zu werden.
- Erweiterung der Einnahmebasis der gesetzlichen Pflegeversicherung durch Ausweitung der Beitragsbemessung auf über das Arbeitseinkommen hinausgehende Einkommensarten auf der Grundlage des steuerlichen Einkommensbegriffs.
- Die Refinanzierung der Kosten der medizinischen Behandlungspflege in vollstationären Pflegeeinrichtungen aus dem SGB V: Ein erster Schritt hierzu ist im PpSG erfolgt, indem die Kosten für die 13.000 zusätzlichen Stellen in vollstationären Pflegeeinrichtungen in Höhe von 640 Mio. Euro im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlungspflege aus dem SGB V refinanziert werden. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern den Gesetzgeber auf, die medizinische Behandlungspflege, deren Kosten nach unterschiedlichen Quellen auf ca. 3 Mrd. Euro geschätzt werden, noch in dieser Legislaturperiode vollumfänglich aus dem SGB V zu refinanzieren.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich zudem dafür ein, dass kurzfristig eine jährliche, an Kriterien der Kostenentwicklung orientierte Leistungsanpassung durchgeführt wird, um einen weiteren Realwertverlust der Leistungen zu vermeiden. Nur auf diese Art und Weise ist gewährleistet, dass die Sozialhilfeabhängigkeit pflegebedürftiger Menschen nicht weiter zunimmt.
Der Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen an den Leistungsempfänger/innen, der sich in den Anfangsjahren der Pflegeversicherung nahezu halbiert hatte, ist seit 1999 wieder gestiegen. Er beläuft sich – mit Schwankungen – seit 10 Jahren auf ca. 30 Prozent im stationären Bereich und auf unter 5 Prozent im ambulanten Bereich, mit zuletzt leicht sinkenden Tendenzen.
Ein wesentliches Ziel einer nachhaltigen Finanzierung der Pflegeversicherung muss es somit sein, die Eigenbeteiligung der pflegebedürftigen Menschen zu verringern. Dies fordert auch die LINKE in ihrem Antrag. Steigende Eigenanteile sind insbesondere im stationären Bereich ein Problem: Obwohl die Eigenanteile in den vollstationären Einrichtungen nach Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils zunächst stabil waren bzw. in den ehemaligen Pflegestufen 2 und 3 sogar gesunken sind, ist seit dem 1.1.2018 in allen Bundesländern ein Anstieg zu beobachten. Der einrichtungseinheitliche Eigenanteil liegt im bundesweiten Durchschnitt bei 593 Euro (vgl. vdek-Basisdaten des Gesundheitswesens 2017/18, S. 51). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Eigenanteil für die pflegebedingten Aufwendungen für Pflegebedürftige des Pflegegrad (PG) 1, die nicht dem einheitlichen Eigenanteil unterliegen, mit 918 Euro überdurchschnittlich hoch liegt, auch wenn diese Gruppe relativ klein ist (7,4 Prozent aller stationär Begutachteten des MDS im 1. Quartal 2017, 1,9% im 1. Quartal 2018). Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Pflegebedürftigen des PG 2 im Vergleich zu ihrer Leistung aus der Pflegeversicherung in Höhe von 770 Euro einen hohen Eigenanteil für die pflegebedingten Aufwendungen zu entrichten haben. Hauptgrund für den Anstieg des Eigenanteils für die pflegebedingten Aufwendungen, insbesondere in 2018, dürften Tarifsteigerungen sein. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich für eine gute Bezahlung auf tariflicher Grundlage ein und begrüßen und unterstützen diese Entwicklung daher nachdrücklich. Auch die Regierungskoalition hat sich zum Ziel gesetzt, die Tarifbindung in der Pflege zu forcieren. Gegenwärtig werden dazu Vorschläge u.a. in der Konzertierten Aktion Pflege erarbeitet. Tarifsteigerungen in der Altenpflege dürfen aber – ebenso wenig wie im Krankenhaus – nicht zu Lasten der Leistungsempfänger gehen.
Ein weiteres Ziel muss eine bedarfsgerechte Personalbemessung auf der Grundlage der Ergebnisse des Projektes zur Personalbemessung nach § 113c SGB XI sein, die bis Mitte 2020 zu erproben sind. Auch hier ist Sorge zu tragen, dass eine bessere Personalausstattung in den Pflegeeinrichtungen nicht zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen geht und dass die erhobenen Personalbemessungswerte Verbindlichkeit erhalten.
Einen wesentlichen Beitrag zu der vergleichsweise hohen Quote von Sozialhilfeempfänger/innen im stationären Bereich dürften auch die (nicht refinanzierten) Investitionskosten geleistet haben. Der Anteil der Investitionskosten an der Gesamteigenbe-lastung der Versicherten in stationären Einrichtungen belief sich im bundesweiten Durchschnitt zum 1.1.2018 auf 463 Euro (vgl. vdek-Basisdaten des Gesundheitswesens 2017/18, S. 51), mit erheblichen Schwankungen zwischen den Bundesländern. Dieser Anteil ließe sich reduzieren, wenn die Bundesländer ihrer Verpflichtung zur finanziellen Förderung der Investitionskosten gemäß § 9 SGB XI nachkommen würden. Nur sechs Bundesländer fördern die Investitionskosten in der vollstationären Pflege (BT-Drs. 19/1572, S. 5).
Perspektivisch muss das Pflegeversicherungssystem vom heutigen Teilleistungssystem so weiterentwickelt werden, dass die Versicherten eine bedarfsgerechte Versorgung erhalten und ihre selbst zu tragenden Kosten auf einer transparenten und verlässlichen Basis begrenzt werden.