Stellungnahme Pflegebedürftigkeits-Begutachtungsrichtlinien

mit Schreiben vom 03. Mai 05 räumen Sie der BAGFW die Möglichkeit ein, sich an der Überarbeitung der Entwürfe der Pflegebedürftigkeits-Richtlinien und der Begutachtungsrichtlinien (Stand 03.05.05) mit einer Stellungnahme zu beteiligen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr geehrter Herr Schiffer,

 

mit Schreiben vom 03. Mai 05 räumen Sie der BAGFW die Möglichkeit ein, sich an der Überarbeitung der Entwürfe der Pflegebedürftigkeits-Richtlinien und der Begutachtungsrichtlinien (Stand 03.05.05) mit einer Stellungnahme zu beteiligen. Von dieser gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit machen wir im folgenden gerne Gebrauch und übermitteln Ihnen die Anmerkungen und Hinweise der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zu den beabsichtigten Änderungen der Richtlinien.

 

Zu den Pflegebedürftigkeitsrichtlinien bitten wir um Berücksichtigung folgender Anmerkungen:

 

-          Zu Seite 6, Ziff 3.5.1. / 3.5.2., Hilfeformen:

 

Bei den Formen der Hilfeleistungen wird zwischen Unterstützung, teilweiser Übernahme, vollständiger Übernahme, Beaufsichtigung und Anleitung unterschieden.

Mit der Überarbeitung der Begutachtungsrichtlinien in diesem Punkt soll zum einen der Versuch unternommen werden, die Hilfeformen im Sinne der Pflegeversicherung zu definieren und zum anderen deutlicher gegeneinander abzugrenzen. Beides ist prinzipiell zu begrüßen.

Unser Auffassung nach umfasst die Hilfeform Unterstützung aber nicht nur die Bereitstellung von sächlichen Hilfen, um eine Verrichtung selbstständig durchzuführen, sondern auch personenbezogene Dienstleistungen. So kann das Anreichen des Waschlappens sicherlich nicht zu den sächlichen Hilfen gezählt werden, sondern umfasst auch das konkrete Handeln, die konkrete Hilfestellung durch eine Pflegeperson, da dies in der Regel im Gegensatz zum Bereitstellen von Hilfsmitteln auch sehr zeitnahe Interaktionen mit dem Antragsteller/dem pflegebedürftigen Menschen beinhaltet.

 

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Des Weiteren erfordert auch die Bereitstellung eines Rollators u.U. häufig auch eine Unterstützung/Anleitung bei der richtigen Nutzung des Hilfsmittels – wie bereits in den gegenwärtigen geltenden Begutachtungs- und Pflegebedürftigkeits-Richtlinien festgehalten.

Daher sollte „sächlicher Hilfen“ durch „geeigneter Hilfen“ ersetzt werden.

In den gegenwärtigen geltenden Begutachtungs- und Pflegebedürftigkeits- Richtlinien wird zum einen darauf verwiesen, dass die Unterstützung, die teilweise Übernahme und die vollständige Übernahme im Sinne einer aktivierenden Pflege erbracht werden sollen und dass die Hilfen in Form von Unterstützung und (teilweise) Übernahme in wechselseitiger Ergänzung bei einer Verrichtung erforderlich sein können. Die Streichung von Beidem ist nicht nachvollziehbar.

 

-          Zu Seite 12, Ziff 5.9., individueller Pflegeplan:

 

Damit der vom Medizinischen Dienst gem. § 18 Abs. 6 SGB XI zu erstellende individuelle Pflegeplan (5.9 PflRi-E.) eine positive Wirkung entfalten kann, ist zwingend geboten, dass nicht nur die Pflegekasse sondern auch der Pflegebedürftige hiervon Kenntnis erhält und seinen Hausarzt sowie ggf. die betreuende Pflegeeinrichtung informieren kann. Im leistungsrechtlichen Rundschreiben der Pflegekassen findet sich der Satz "Die vom MDK gegebenen Empfehlungen teilt die Pflegekasse dem Versicherten im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung zum Leistungsantrag mit." Seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung wird jedoch beklagt, dass der individuelle Pflegeplan des MDK lediglich der Pflegekasse bekannt gemacht wird. Damit der Aufwand für die Erstellung des individuellen Pflegeplans nicht vergeudet ist, sondern vielmehr die vom Gesetzgeber gewünschten Wirkungen eintreten können, muss der individuelle Pflegeplan dem Pflegebedürftigen zur Verfügung gestellt werden. Entsprechend ist unter 5.10 PflRi-E. ergänzend aufzunehmen: "Dabei übermittelt die Pflegekasse dem Pflegebedürftigen auch den vom MDK erstellten individuellen Pflegeplan."

 

 

Zu den Begutachtungsrichtlinien äußern wir uns wie folgt:

 

-          Zu D 3.2. (S. 27) Beschreibung von Schädigungen / Fähigkeitsstörungen / Ressourcen in Bezug auf den Bewegungs- und Stützapparat, die inneren Organe, die Sinnesorgane und Nervensystem/Psyche:

 

Die Neufassung beschränkt sich nicht mehr nur auf funktionelle Einschränkungen. Sie erfasst mit der Ermittlung der Fähigkeitsstörungen auch die Ressourcen des Antragstellers und kehrt somit ein Stück von Negativbeschreibungen ab, indem hier auch die Potentiale der pflegebedürftigen Menschen berücksichtigt werden. Dies ist positiv zu bewerten.

In diesem Kontext ist allerdings zu fragen, warum sich die Beschreibung hier nicht am ICF orientiert.

Dieser bietet als internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation eine länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person.

 

 

-          Zu D, 4.0., II, (S. 46) Formen der Hilfeleistung wird auf  den Hinweis zu den Pflegedürftigkeitsrichtlinien zu Ziff 3.5.1 / 3.5.2 verwiesen.

 

-          Zu D 4.0. III/ 8 ( S. 55) Besonderheiten der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder geistigen Behinderungen:

 

Begrüßenswert ist, dass auch in der vorliegenden Entwurfsfassung die Besonderheiten der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder geistigen Behinderungen beibehalten sowie überarbeitet wurden. Angeführt werden in diesem Kontext Besonderheiten im Hinblick auf die Krankheitsbilder, den daraus resultierenden Hilfebedarf, die Vorbereitung der Begutachtung und die Begutachtungssituation. Allerdings werden im zweiten Absatz die Krankheitsbilder von Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder geistigen Behinderungen und die mit ihnen korrespondierenden möglichen Hilfebedarfe in zu generalisierender wertender Form beschrieben. Hierbei wäre es aber wünschenswert, dass die benannten Kriterien wie Motivation, Krankheitsgefühl, Krankheitseinsicht und/oder Kritik- und Urteilsfähigkeit einzeln und in ihren Interdependenzen beschrieben werden und dann die daraus resultierenden Hilfebedarfe individuell erhoben werden.

 

-          Zu D 4.0. III 9. (S. 60) Besonderheit der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Kindern einschließlich Zeitbemessung:

 

Pflegebedürftige Kinder sind zur Feststellung des Hilfebedarfs mit einem gesunden Kind gleichen Alters zu vergleichen. Maßgeblich ist dabei der über den natürlichen altersbedingten Pflegeaufwand hinausgehende Hilfebedarf. Bei der Begutachtung von Kindern wird der Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen konkret bezüglich des Zeitaufwands, der Häufigkeit und der Hilfeform erfasst und  dokumentiert. Von diesem wird dann der altersbedingte Pflegeaufwand eines gesunden Kindes abgezogen, die entsprechenden Minutenwerte für den Pflegeaufwand eines gesunden Kindes können der Tabelle auf Seite 63 entnommen werden. Leider finden sich in der Tabelle keine Quellenangaben zu den Zeitwerten, so dass deren Validität nicht belegt ist und deren Legitimation als einheitlicher Maßstab bei der Begutachtung angezweifelt werden muss und damit die bisher bestehenden Probleme bei der Begutachtung von Kindern als nicht gelöst erscheinen.

Des Weiteren ist grundsätzlich kritisch die gewählte Vergleichssystematik (Hilfebedarf eines pflegebedürftigen Kindes in Relation zum Hilfebedarfs eines gesunden Kindes gleichen Alters) zu hinterfragen.

 

 

-          Zu D.5.2.4 (S. 81) Begutachtung in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen (Begutachtungs-Richtlinien) sowie 4.5 (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien)

 

Die Begutachtungspraxis wurde dahingehend umgestellt, dass in jedem Einzelfall die vorliegende Pflegestufe ermittelt werden muss. Dies ist zu begrüßen, da ein weitergehender Leistungsanspruch in Abhängigkeit von der Pflegestufe besteht.

 

-          Zu F (S. 109 ff.) Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung für die in § 14 SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege

 

Unter F) Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung für die in § 14 SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege werden auch die Pflege erschwerenden und die Pflege erleichternden Faktoren in einer nicht abschließenden Aufzählung angeführt. In dem vorliegenden Entwurf wurde auf eine Differenzierung zwischen allgemeinen und speziellen Erschwernis- und erleichternden Faktoren verzichtet. Der Verzicht auf diese Differenzierung ist zu begrüßen, da es einer größeren Übersichtlichkeit dient und zu einer Straffung beiträgt.

Bei den beispielhaft angeführten Erschwernisfaktoren wird das Körpergewicht auf von 80 auf 90 kg angehoben, Hemiplegien oder Paraparesen, die Fehlstellung der Extremitäten, die eingeschränkte Belastbarkeit infolge schwerer kardiopulmonaler Dekompensation und ausgeprägter zentraler und peripherer Zyanose sowie peripheren Ödemen, die stark eingeschränkte Sinneswahrnehmung und starke therapieresistente Schmerzen werden gestrichen. Die Anhebung des Körpergewichts und die Streichungen der anderen hier benannten Erschwernisfaktoren sind nicht nachvollziehbar.

 

-          Allgemein merken wir darüber hinaus an:

 

Veränderte Begrifflichkeiten (Begutachtungs- Richtlinien und Pflegebedürftigkeits-Richtlinien)

 

In den vorliegenden Entwürfen wurden an verschiedenen Stellen sprachliche Veränderungen vorgenommen. Teilweise wurden die Begrifflichkeiten der Pflegebedürftigkeits- und der Begutachtungs- Richtlinien denen des SGB XI oder anderer Sozialgesetze angepasst, teilweise wurde aber auch die Absicht verfolgt, mit der veränderten Terminologie dem (veränderten) Status des Betroffenen auch sprachlich gerecht zu werden. Dies ist generell zu begrüßen.

Zu hinterfragen ist jedoch im Hinblick auf die Zielgruppe, warum nicht im Sinne des Paradigmenwechsels und der Einheitlichkeit eine Orientierung an dem Verfahren zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz erfolgt und von "Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen", "Menschen mit Behinderungen", "Menschen mit psychischen Erkrankungen" etc. gesprochen wird anstatt von "behinderten Menschen" etc. 

Des Weiteren sind an manchen Stellen begriffliche Veränderungen irritierend, da nicht klar ist, ob es sich nur um sprachliche Veränderungen handelt oder um andere inhaltliche Akzentuierungen, z.B. bei der Ersetzung des Wortes "Zeitkorridore" durch "Zeitorientierungswerte". Hier fehlen ebenso wie bei anderen neu eingeführten Begriffen (z.B. personelle Hilfe) entsprechende Definitionen.

 

Wir hoffen, dass unsere Anmerkungen bei der Überarbeitung angemessene Berücksichtigung finden können.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

 

 

Werner Ballhausen