Beitrag der BAG der Freien Wohlfahrtspflege
Vorbemerkung
Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Verbände als starke „stakeholder der Zivilgesellschaft“ (2.3) in Deutschland begrüßen die Mitteilung der Kommission. Die Kommission schließt damit an ihre bisherigen Arbeiten zum „minimum income“ seit 1992 an. Wir halten es für notwendig, dass sich die Kommission weiterhin bedarfsgerechter finanzieller Leistungen zur Sicherung der Existenz bedürftiger Personen annimmt.
Insbesondere begrüßen wir die darin enthaltenen Feststellungen
- dass der Sicherung eines angemessenen Zugangs zu sozialen Dienstleistungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte (1.3),
- dass Sozialschutzmassnahmen, zu denen auch die Sozialhilfe gehört, für die Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt sind und bleiben werden, einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten (Ziel),
- dass aktive Eingliederung mehr umfassen muss als Vermittlung in (irgend)eine Beschäftigung, insbesondere für Jugendliche, gering Qualifizierte und Langzeitarbeitslose (1.3),
- dass der Nutzen von Aktivierungsmaßnahmen über die unmittelbaren Beschäftigungseffekte hinausgeht (1.3).
Dagegen halten wir es für problematisch, dass - verstärkt durch die Diskussion der letzten Jahre auf europäischer Ebene und festgehalten in der erneuerten Lissabonstrategie (2005) - Systeme und Mittel der finanziellen Existenzsicherung für Bedürftige, Ausgegrenzte und arme Menschen nur noch mit Blick und Aussicht auf die Integration in den Arbeitsmarkt gesehen werden. Zu einer Politik der Inklusion gehört auch eine Politik der Teilhabe und der Existenzsicherung für Menschen, die nicht arbeitsfähig sind. Und selbst für arbeitsfähige Personen im erwerbsfähigen Alter gab und gibt es oft keine Wahlfreiheit, sich für den Leistungsbezug oder für eine Arbeit zu entscheiden, wenn geeignete Arbeitsplätze fehlen.
Stellungnahme zu den von der Kommission gestellten Fragen
1. Die Mitgliedsstaaten stehen vor der Herausforderung sich des Themas der sozialen Eingliederung, insbesondere der Eingliederung der arbeitsmarktfernen Personen annehmen zu müssen.
Werden vor diesem Hintergrund weitergehende Maßnahmen auf EU-Ebene erforderlich?
Wenn ja, wie kann die EU die Maßnahmen auf nationaler Ebene am sinnvollsten ergänzen und unterstützen?
Die politische Aufgabe der sozialen Eingliederung, der Eingliederung in die Gesellschaft, besteht grundsätzlich unabhängig von der Nähe oder Ferne von Personen zum Arbeitsmarkt. Je weiter entfernt bzw. je länger ausgeschlossen die Betroffenen vom Arbeitsmarkt sind, desto mehr bedürfen sie der vorgelagerten oder weitergehenden Unterstützungsleistungen. Kinder und Ältere etwa sind auf Unterstützungsleistungen, soziale Dienste etc. angewiesen, die ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um das Ziel „vor extremer Armut schützen“. Wir betonen, dass diese sozialen Dienste neben der Existenzsicherung durch Transfereinkommen und der „Aktivierung“ durch konkrete verbindliche Förder- und Beschäftigungsangebote ihre Bedeutung haben, auch unabhängig von der Entfernung vom Arbeitsmarkt. Integration in den Arbeitsmarkt ist nur ein Mittel, Menschen in die Gesellschaft zu integrieren und trifft nicht undifferenziert für alle Personengruppen zu.
Aussagen wie, die „am meisten ausgeschlossen, am stärksten gefährdet, wirklich bedürftig, arm, benachteiligt, verletzbar, ausgegrenzt, den “harten Kern“ bilden, etc.“, können zur Marginalisierung beitragen. Sie sollten vermieden werden. Diese Engführung im Mitteilungstext widerspricht dem Vertragstext von Art.137 Abs.1, h , denn darüber rücken die „normalen“ Langzeitarbeitslosen, Schwervermittelbaren und Benachteiligten und der Vorrang der Prävention in den Hintergrund. Damit kann eine neue „Armutsfalle“ entstehen.
Die „Mindesteinkommen“ werden national festgelegt. Es gibt keine Zuständigkeit der Kommission. Die Kommission sollte jedoch Empfehlungen für die Verbesserung der Beteiligung der NRO geben, etwa durch entsprechende Formulierungen in den Verordnungen über die Umsetzung der Strukturfonds, zur Erstellung der Nationalen Reformpläne oder des mainstreaming (poverty-proofing) bei Inclusion.
2. Wie sollte die Union – aufbauend auf dem mit der Empfehlung von 1992 gelegten gemeinsamen Fundament – weiter vorgehen, um unter Berücksichtigung der relevanten politischen Neuerungen die Rechte ausgegrenzter Personen zu stärken und ihnen den Zugang zu den benötigten Dienstleistungen zu erleichtern?
Auch diese Regelungen liegen in der Verantwortung und Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten.
Nach unseren Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland haben die Neuerungen durch die im Jahr 2005 veränderte Lissabonstrategie bei der Umsetzung zu einem Abbau der Rechte ausgegrenzter Personen geführt. “Beratung“ wird in der Praxis oft nur noch auf die „Vermittlung in den Arbeitsmarkt“ reduziert und lässt die vielfältigen Lebensbedingungen der Menschen weitgehend außer Acht. Der Druck, irgendeine Arbeit aufzunehmen ist gestiegen, während andere und bessere Integrationshilfen weniger angeboten werden. Zugangsmöglichkeiten zu Beratungs- und Integrationsleistungen können nur durch ein „Recht auf ...“ (z.B. „Recht auf ein Girokonto“) oder durch ausreichend zur Verfügung gestellte Haushaltsmittel der unterschiedlichen Ebenen der Akteure (z. B. ESF; Eingliederungstitel) erleichtert werden. Wir kritisieren den Abbau der Rechte durch haltlose politische Kampagnen zum „Missbrauch von Sozialleistungen“. Die Dunkelziffer derer, die ihre Ansprüche gerade nicht geltend machen (können), ist sehr hoch.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir alle Aktivitäten, die europaweit ein „Recht auf existenzsichernde Sozialleistungen“ zum Ziel haben.
3. Erscheinen Maßnahmen auf EU-Ebene auf der Grundlage von Artikel 137 Abs. 1, h (Vertrag von Nizza) gerechtfertigt? („um die Ziele von Art. 136 zu erreichen, soll die Gemeinschaft unterstützen und ergänzen die Aktivitäten der Mitgliedsstaaten in folgenden Bereichen: h) Die Integration der Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.“)
Könnten Fragen, die die Aspekte Aktivierung und Arbeitsmarktzugang betreffen, Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern sein?
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich die im Vertrag von Nizza von der Kommission eingeleiteten Maßnahmen der letzten Jahre. Soziale Eingliederung / Inclusion ist für ca. 72 Mio. Bewohner der EU ein – auch existenziell – wichtiges politisches Thema. Um „arbeitsmarktferne“ Personen kümmern sich in Deutschland unter anderem die Mitgliedsorganisationen der Freien Wohlfahrtspflege. Das „Europa der Arbeitnehmer“ (wie auch der Arbeitgeber) muss um Maßnahmen zu Gunsten ausgegrenzter Personen ergänzt werden, und dies nicht nur im Blick auf ihre Integration in den Arbeitsmarkt.
In der Bundesrepublik wird die Arbeitsmarktpolitik für „arbeitsmarktnahe“ Personen im SGB III geregelt; die Tarifpartner im Rahmen der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit beteiligt. Für „arbeitsmarktferne“ Personen gilt hauptsächlich das SGB II. Hier gibt es eine lokale Zuständigkeit. Hier können die Tarifpartner und andere gesellschaftliche Gruppen in Beiräten des Trägers der Grundsicherung Aspekte der Aktivierung usw. vorschlagen. Die Einrichtung solcher Beiräte ist im Gesetz genannt, wird jedoch vom Träger der Grundsicherung in der Regel nicht aktiv betrieben.
Die Frage der Aktivierung steht für die Tarifpartner nicht im Fokus. Sie ist vielmehr Ziel staatlicher Interventionen, insbesondere nach der Neuorientierung der Lissabon-Strategie 2005.
Insgesamt sollten Initiativen auf EU-Ebene den Aspekt der Befähigung von Menschen betonen. Ebenfalls kann die Rolle der Zivilgesellschaft stärker positioniert und auch eingefordert werden.
Projektgruppe „Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik"