Nachdem das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 auch für das SGB II eine Härtefallregelung gefordert hat, hat der Haushaltsausschuss des Bundestags einen Entwurf für eine gesetzliche Regelung im SGB II vorgelegt.
1. Transparentes Verfahren einhalten
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen einfachgesetzlichen Anspruch in Tatbestand und Rechtsfolge konkretisiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dafür ein transparentes Verfahren gefordert, in dem der parlamentarische Gesetzgeber die erforderlichen Wertungen trifft (Rn. 138 f. des Urteils vom 09.02.2010, Az. 1 BvL 1, 3 und 4/09). Nachdem eine gesetzliche Regelung der Härtefälle im SGB II im Rahmen des Sozialversicherungsstabilisierungsgesetzes Anfang März gescheitert ist, soll nun am 19. April eine Anhörung im Haushaltsausschuss stattfinden.
Bewertung
Die BAGFW begrüßt diesen Verfahrensweg, der nunmehr eine der Bedeutung dieser Frage angemessene Behandlung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Regelung sicherzustellen verspricht.
2. Wortlaut der Regelung an das SGB XII anpassen
Der neue § 21 Abs. 6 SGB II soll lauten:
„Erwerbsfähige Hilfebedürftige erhalten einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“
Bewertung
Der Gesetzeswortlaut übernimmt Zitate aus dem Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 (Rn. 208 des Urteils). Da die Sätze jedoch in der Urteilsbegründung im Zusammenhang mit einer längeren Ausführung stehen, können sie für sich genommen missverstanden werden. Insbesondere gilt dies für Satz 2 der vorgeschlagenen Härtefallregelung. Hier weicht der Entwurf sogar in signifikanter Weise von der Begründung des Verfassungsgerichtes ab:
Während der Entwurf einen Bedarf dann für unabweisbar erklärt, wenn dieser „insbesondere nicht durch Zuwendungen Dritter … gedeckt ist“, stellt das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle auf „Leistungen Dritter“ ab. Diese Abweichung halten wir für bedenklich. Denn der Begriff der „Zuwendungen“ geht über die Formulierung des Verfassungsgerichtes hinaus und umfasst auch freiwillige Zuwendungen, sowohl der öffentlichen Hand wie auch nichtstaatlicher Herkunft (z. B. der Wohlfahrt). Demgegenüber differenziert das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung erkennbar zwischen freiwilligen Leistungen (so im Zusammenhang mit der Beschreibung des Menschenrechtes auf Sicherung des Existenzminimums, wonach niemand für dessen Absicherung auf „freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden“ darf, s. Rn. 136) und den übrigen Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht (so in Rn. 208). Daraus ist zu schließen, dass nach der Absicht des Bundesverfassungsgerichts nur solche Leistungen Dritter vorrangig sein sollen, auf die die Hilfebedürftigen einen rechtlichen Anspruch haben. Dies erscheint auch folgerichtig: Ebenso wenig wie der Sozialstaat für die Absicherung des Existenzminimums vorrangig auf freiwillige Hilfen verweisen darf, darf auch die Sicherung in besonderen Härtefällen mit Verweis auf solche freiwillige (und damit nicht sicher zustehende) verweigert werden.
Es bleibt Aufgabe des Sozialstaats, das soziokulturelle Existenzminimum jederzeit zu garantieren und sowohl bei Sonderbedarfen als auch bei einmaligen Bedarfen zu sichern.
Vorschlag
Als Alternative bietet es sich an, die bereits vorhandene Regelung aus dem SGB XII zu übernehmen. Dafür spricht auch die gewünschte Kompatibilität der beiden Grundsicherungssysteme. Die Sozialhilfe ist das Referenzsystem der Grundsicherungssysteme und sollte daher auch in diesem Fall als „Vorbild“ herangezogen werden. Im SGB XII hat sich diese Regelung bewährt. Auch dort kommt eine abweichende Festsetzung nur in seltenen Fällen vor. Die im Entwurf vorgesehene Formulierung bringt hier keine zusätzliche Klarheit, sondern wird vielmehr für Verwirrung sorgen. Die Regelung des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII lautet:
„Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“
Sollte dieser Vorschlag nicht umgesetzt werden können, ist jedenfalls die problematische Bezugnahme auf vorrangige Deckungsmöglichkeiten zu streichen und § 21 Abs. VI Satz 2 SGB II neu wie folgt zu fassen:
„Der Bedarf ist unabweisbar, wenn er der Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“
3. Richtige systematische Verortung im SGB II
Der Gesetzesentwurf sieht einen neuen § 21 Abs. 6 SGB II vor. Die Härtefälle werden damit als Mehrbedarf eingestuft.
Bewertung
Der Entwurf überzeugt nicht. Die in § 21 SGB II geregelten Härtefälle betreffen jeweils bestimmte Personengruppen, für die ein über die Regelleistung hinausgehender Bedarf anerkannt ist, z.B. Schwangere, Alleinerziehende, Behinderte etc. Dieser Mehrbedarf wird für diese Personengruppen als prozentualer Anteil der Regelleistung in Geld ausgezahlt.
Eine Beschränkung auf bestimmte Personengruppen ist bei den Härtefällen, für die das Bundesverfassungsgericht eine Regelung verlangt, gerade nicht möglich. Denn diese Härtefallregelung können alle SGB II-Leistungsempfänger in Anspruch nehmen, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Außerdem lässt sich die zusätzliche Leistung in Härtefällen naturgemäß nicht im Voraus als Prozentsatz festlegen. In den betreffenden Einzelfällen wird die Regelleistung vielmehr individuell abweichend von § 20 Abs. 2 SGB II festgesetzt.
Forderung
Richtigerweise muss die Härtefallregelung daher nicht in § 21 SGB II, sondern in § 20 SGB II verortet werden, z.B. in § 20 Abs. 1 Satz 2 SGB II oder in einem neuen Abs. 3a. In diesem Paragraphen ist die Eckregelleistung definiert.
4. Härtefallkatalog unzureichend
Die Gesetzesbegründung nennt einige Beispiele, in denen ein zusätzlicher Bedarf gewährt werden kann. Es werden z.B. ein erhöhter Bedarf an Hygienemitteln bei bestimmten Krankheiten, Putz- oder Haushaltshilfen für Rollstuhlfahrer sowie Kosten im Zusammenhang mit der Ausübung des Umgangsrechts genannt.
Vorschlag
Aus Sicht der BAGFW erfüllen jedenfalls auch folgende beispielhaft genannten Bedarfe die vom Bundesverfassungsgericht genannten Voraussetzungen:
- Hygieneartikel
Die Einschränkung auf Hygieneartikel bei bestimmten Erkrankungen ist nicht ausreichend. Auch bei Inkontinenz tritt ein erhöhter Bedarf an Hygieneartikeln, aber auch an Wäsche oder Matratzen auf.
- Nicht verschreibungspflichtige Medikamente
Bei bestimmten Krankheiten (z.B. HIV oder Neurodermitis) besteht ein Bedarf an nicht verschreibungspflichtigen Arznei- bzw. Heilmitteln, die im Härtefallkatalog aufzunehmen sind. Dies wurde in der direkt nach dem Urteil erarbeiteten Handlungsanweisung der BA vom 17.02.2010 noch berücksichtigt.
- Fahrtkosten zur ärztlichen Behandlung
In einigen Fällen wird zwar die Therapie von der Krankenkasse bezahlt, nicht aber die Fahrtkosten zum Arzt. Diese werden von der Krankenkasse übernommen, wenn es aus medizinischen Gründen notwendig ist. Probleme treten auf, wenn keine medizinische Notwendigkeit besteht, die Therapie längerfristig ist und der Arzt verhältnismäßig weit entfernt ist, d.h. hohe Fahrtkosten entstehen. Dies ist z.B. denkbar bei einer längeren fachärztlichen Therapie oder einer psychiatrischen Behandlung in der Muttersprache, die häufig weite Fahrten notwendig macht.
- Putz- bzw. Haushaltshilfe
Die Beschränkung der Haushaltshilfen auf Rollstuhlfahrer greift zu kurz. Diese Hilfen müssen immer dann gewährt werden, wenn Menschen aufgrund einer Einschränkung nicht in der Lage sind, ihren Haushalt selbst zu verrichten, ohne dass sie an einen Rollstuhl gebunden wären.
- Kosten für die Wahrnehmung des Umgangsrechts bei inhaftierten Familienmitgliedern
Die Kosten, die für Besuchsfahrten der Familie zu einem inhaftierten Familienmitglied entstehen, müssen übernommen werden. In diesen Konstellationen ist ebenso wie bei getrennt lebenden Elternteilen der Kernbereich des Art. 6 Grundgesetz betroffen. Gleiches gilt auch für die Fahrtkosten zu stationär untergebrachten Familienmitgliedern (z.B. bei einem längeren Krankenhausaufenthalt).
- Bekleidung und Schuhe in Über- und Untergröße
Bekleidung bzw. Schuhe in Über- oder Untergröße soll von der Härtefallregelung erfasst werden, soweit sie im Einzelfall zu einem Mehrbedarf führt. Gerade Bekleidungsüber/-untergrößen können sich über die Gesamtausstattung hinweg erheblich summieren.
- Schulmaterialien, Schulverpflegung und Schülerfahrtkosten
Schulmaterialien und Schulverpflegung dürfen nicht a priori ausgeschlossen werden. Sie sind meist auch nicht durch die Leistung gem. § 24 a SGB II („Schulstarterpaket“) abgedeckt. Daneben ist es nötig, die Übernahme von Schülerfahrtkosten im Bedarfsfall übernehmen zu können, soweit sie nicht bereits von anderer Stelle (z.B. Ländern) getragen werden.
- Versicherungsbeiträge für privatversicherte Leistungsempfänger
Die bestehende Finanzierungslücke für privatversicherte Leistungsempfänger muss über die Härtefallregelung geschlossen werden, wenn und soweit keine andere Lösung dieses rechtswidrigen Zustandes gefunden werden kann.