A. Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen
I. Die BAGFW begrüßt das Ziel, das Instrument des Kinderzuschlags als dem SGB II und SGB XII vorgelagertes Sicherungssystem auszubauen.
II. Um Kinder und Familien angemessen zu fördern, ist langfristig der Aufbau einer eigenständigen, steuerfinanzierten Kindergrundsicherung erforderlich.
III. Der Referentenentwurf bleibt hinsichtlich der Größe der von dem Kinderzuschlag profitierenden Gruppe deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die mit der Neuregelung erzielte Unterstützung von 120.000 zusätzlichen Kindern bedeutet gegenüber der noch im Juni 2007 vom BMFSFJ geplanten Ausweitung des Berechtigtenkreises um 406.000 Kinder eine drastische Reduzierung um 70 %. Auch der neugestaltete Kinderzuschlag löst nicht in jedem Fall das benannte Ziel ein, dass Eltern, die mit ihrem Einkommen ihren eigenen Bedarf decken könnten, mit Kinderzuschlag und Wohngeld unabhängig von Grundsicherungsleistungen für „Arbeitsuchende“ leben können.
IV. Die deutliche Absenkung der Mindesteinkommensgrenze wird begrüßt, da dadurch ein größerer Kreis von Eltern Leistungen des Kinderzuschlags zuzüglich Wohngeld anstelle von SGB II-Leistungen beziehen kann.
V. Die BAGFW fordert eine Wahlmöglichkeit zwischen Kinderzuschlag und SGB II-Bezug. Damit können Familien, die sich mit Kinderzuschlag und Wohngeld zwar geringfügig schlechter stellen als mit SGB II-Leistungen dennoch diese Variante wählen, um den Bezug von SGB II-Leistungen und den damit verbundenen Restriktionen zu vermeiden.
VI. Die BAGFW fordert die Abschaffung der gesetzlich definierten Höchsteinkommensgrenze, da diese schon bei geringfügigem Überschreiten zum vollständigen Verlust des Kinderzuschlags und damit selbst bei steigendem Erwerbseinkommen zu einer erheblichen Senkung des Familieneinkommens führt. Zudem wird damit die Aufnahme oder Ausweitung von Erwerbstätigkeit negativ beeinflusst.
VII. Die Neuregelung der Ermittlung der Mindesteinkommensgrenze führt zu keiner Vereinfachung der Verwaltungspraxis, da auch weiterhin ein Zusammenwirken von Familienkasse, Wohngeldamt und Träger des SGB II erforderlich ist. Wichtig wäre eine abgestimmte Prüfung aller Ansprüche.
VIII. Die BAGFW begrüßt die Verringerung der Abschmelzrate von 70 % auf 50 %.
B. Im Einzelnen
I. Vorbemerkung
Die ausreichende finanzielle Absicherung der Bedarfe von Kindern und ihren Familien und die Bekämpfung von Kinderarmut ist ein Grundanliegen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW).
- Ausbau des Kinderzuschlags als vorrangiges Sicherungssystem
Die BAGFW begrüßt ausdrücklich das Bestreben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Instrument des Kinderzuschlags zu verbessern. Der Kinderzuschlag ist eine gegenüber dem existenzsichernden System des SGB II vorgelagerte Transferleistung, die sicherstellen soll, dass Eltern, die aus ihrem Erwerbseinkommen ihre eigenen Bedarfe decken können, nicht allein wegen der Bedarfe ihrer Kinder auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II angewiesen sind. In diesem Zusammenhang ist auch der aktuell in der Politik diskutierte Vorschlag, das Wohngeld deutlich zu erhöhen, ausdrücklich zu begrüßen, da auch das Wohngeld ein vorgelagertes Sicherungssystem ist, das das „Abrutschen“ ins SGB II allein wegen der Wohnkosten verhindert. Auch von dieser Änderung würden Kinder und ihre Familien profitieren.
- Eigenständige Sicherung des Existenzminimums von Kindern als familienpolitisches Ziel
Der Ausbau vorrangiger Sicherungssysteme für Familien im Niedrigeinkommensbereich ist nur ein erster Zwischenschritt auf dem Weg zu einer ausreichenden Familienförderung. Erklärtes Ziel familienpolitischer Maßnahmen sollte sein, langfristig die Existenz von Kindern generell in einem eigenständigen System außerhalb des SGB II sicherzustellen und gesamtgesellschaftlich zu finanzieren.
- Neuer Kinderzuschlag erreicht zu wenig Kinder und Familien – auch
Überprüfung der Regelsätze für Kinder im SGB II und SGB XII geboten
Der Kinderzuschlag hat in der Vergangenheit erhebliche Mängel offenbart und nur etwa 124.000 Kinder erreicht.[1] Anstatt der vom BMFSFJ noch im Juni 2007 erstrebten Ausweitung des Berechtigtenkreises um 406.000 Kinder[2], sollen nun nur noch 120.000 Kinder zusätzlich von diesem Instrument profitieren. Das für den Ausbau des Kinderzuschlags einzusetzende Finanzvolumen reduziert sich um mehr als 300 Mio. €. Die mit der Reform erstrebten Veränderungen kommen daher vielen Kindern, die an der Armutsgrenze leben, nicht zugute, so dass eine weitere Qualifizierung des Kinderzuschlags erforderlich bleibt. Hierzu sind auch weitere in der Fachwelt diskutierte Vorschläge einzubeziehen.[3]
Neben einem weiteren Ausbau des Kinderzuschlags müssen auch die ca. 2 Mio. ärmsten Kinder und Jugendlichen politisch in den Blick genommen werden, die nicht von diesem Instrument profitieren, sondern im SGB II verbleiben. Eine Überprüfung der Regelsätze für Kinder und deren bedarfsgerechte Ausgestaltung, das Verhältnis von Pauschalen und einmaligen Leistungen sowie notwendiger Sachleistungen (Lernmittel usw.) für Familien im SGB II ist ebenso erforderlich, um Kinder- und Familienarmut wirksam entgegenzuwirken. Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, sich auch dieser großen Personengruppe unverzüglich anzunehmen und auf eine ausreichende Bedarfsdeckung dieser Kinder hinzuwirken. Zudem weist die BAGFW darauf hin, dass eine sachgerechte Bestimmung des Existenzminimums im SGB II und im SGB XII erst die Voraussetzung für eine qualifizierte Diskussion um den Kinderzuschlag ist.
Darüber hinaus hält die BAGFW eine kritische Überprüfung der Höhe des Kinderzuschlages unter armutsvermeidenden Gesichtspunkten für unbedingt notwendig.[4]
Im Einzelnen nimmt die BAGFW zum vorliegenden Referentenentwurf wie folgt Stellung:
II. Absenkung der Mindesteinkommensgrenze (zu § 6a Abs. 1 Nr. 2 BKGG-E)
Der Referentenentwurf sieht vor, die Mindesteinkommensgrenze für Paare auf 900 € bzw. für Alleinerziehende auf 600 € abzusenken. Bislang liegt die Mindesteinkommensgrenze bei dem individuellen Betrag, den die Eltern für sich an Arbeitslosengeld II erhalten können.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt die Neuregelung, die zu einer deutlichen Herabsenkung der Mindesteinkommensgrenze bzw. faktisch zu ihrem Wegfall führt. Das hat zur Folge, dass einige Familien, die bei Inanspruchnahme des Kinderzuschlags zuzüglich Wohngeld höhere Leistungen als im SGB II erhalten können, nicht mehr allein infolge der Mindesteinkommensgrenze vom Kinderzuschlag ausgeschlossen sind. Dieser Fehler im bisherigen System wird dadurch behoben. Allerdings bringt diese Neuregelung keine Verbesserung für Alleinerziehende, für Familien mit Kindern über 14 Jahren sowie bei Familien mit hohen Wohnkosten, die weiterhin auf das SGB II verwiesen bleiben.
III. Beibehaltung der Bemessungsgrenze: Keine Wahlfreiheit für Familien mit einem Einkommen unterhalb des Bemessungspunktes (§ 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG-E)
Der Bezug von Kinderzuschlag ist ausgeschlossen, wenn die Voraussetzung des § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG-E (bzw. § 6a Abs. 1 Nr. 3 BKGG), dass durch den Bezug des Kinderzuschlags Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II vermieden wird, nicht erfüllt ist. Diese sog. Bemessungsgrenze bleibt auch im Referentenentwurf enthalten.
Bewertung:
Die Beibehaltung der Mindesteinkommensgrenze als Bemessungsgrenze lehnt die BAGFW ab. Die Regelung führt dazu, dass Familien, die lieber auf (geringfügig) höhere Leistungen nach dem SGB II zugunsten des Kinderzuschlags verzichten, um nicht den Restriktionen des SGB II zu unterliegen, diese Wahl nicht treffen können. Dies wäre indes sachgerecht, da bei der SGB II-Vergleichsrechnung auch Freibeträge bei Erwerbstätigkeit enthalten sind, die zusätzlich zu Regelleistungen und Unterkunftsleistungen verfügbar sind. Die BAGFW hält die Wahlfreiheit grundsätzlich für sinnvoll, da der Bezug von Leistungen nach dem SGB II ggf. mit einem Wohnungswechsel und einem Einsatz von Vermögen verbunden ist. Zudem würde den Familien so eine eigenständige Entscheidungsfreiheit zuerkannt. Unabdingbare Voraussetzung für eine echte Wahlfreiheit ist jedoch, dass die Inanspruchnahme von Kinderzuschlag mit einem ausdrücklichen Hinweis verbunden ist, dass den Familien nach dem SGB II höhere Leistungen zustehen.
Die Beibehaltung der bisherigen Bemessungsgrenze führt zudem dazu, dass Alleinerziehende weiterhin kaum vom Kinderzuschlag profitieren. Wegen Überschreitens der neuen abgesenkten Mindesteinkommensgrenze von 600 Euro wird ihnen zwar zunächst theoretisch ein Kinderzuschlag in Aussicht gestellt. Tatsächlich ist die Differenz zu der Bemessungsgrenze, ab der Hilfebedürftigkeit nach SGB II vermieden wird, auch wegen des Mehrbedarfzuschlags für Alleinerziehende (§ 21 Abs. 3 SGB II; § 30 Abs. 3 SGB XII) so hoch, dass sie in der Regel dennoch keinen Kinderzuschlag bekommen. Auch Alleinerziehende sollen jedoch die Wahl haben, geringere Leistungen in Form von Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag zu beziehen, als ausschließlich auf ein höheres, mit Restriktionen verbundenes Arbeitslosengeld II verwiesen zu werden.
Vorschlag:
§ 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG-E wird aufgehoben.
Nach § 6a Abs. 5 BKGG wird ein neuer Abs. 6 eingefügt:
„Wird durch den Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach § 9 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch nicht vermieden, ist der Leistungsberechtigte nach Abs. 1 auf diese Tatsache und auf die voraussichtliche Höhe der Leistungen nach dem SGB II hinzuweisen.“
IV. Verminderung der Abschmelzrate von 70 % auf 50 % (§ 6a Abs. 4 S. 6 BKKG-E)
Im Referentenentwurf ist vorgesehen, die Abschmelzrate für Einkommen aus Erwerbstätigkeit von 70 Prozent auf 50 Prozent zu senken.
Bewertung:
Die BAGFW begrüßt die Neuregelung ausdrücklich. Damit wird vermieden, dass aufgrund der doppelten Degression von Wohngeld und Kinderzuschlag trotz steigendem Erwerbseinkommen das Familieneinkommen faktisch sinkt. Es steigt zugleich der Anreiz zum Ausbau von Erwerbstätigkeit. Dem Ziel, Kinderarmut durch den Ausbau vorrangiger Sicherungssysteme entgegenzuwirken, wird folglich zumindest bei Einkommen zwischen der Bemessungsgrenze und der gesetzlich definierten Höchsteinkommensgrenze Rechnung getragen.
V. Beibehaltung der Höchsteinkommensgrenze (§ 6a Abs. 1 Nr. 3 BKGG-E)
Die gesetzlich definierte Höchsteinkommensgrenze wird beibehalten und in Zukunft auch weiterhin wie bisher berechnet. Hierbei sind die Absetzbeträge nach § 11 Abs. 2 und 3 SGB II und das Vermögen nach § 12 SGB II zu berücksichtigen.
Bewertung:
Die gesetzlich definierte Höchsteinkommensgrenze stellt einen zentralen Konstruktionsfehler des Kinderzuschlags dar: Sie führt einerseits dazu, dass nur in einem sehr schmalen Einkommens-„Korridor“ eine Anspruchsberechtigung auf Kinderzuschlag besteht. Zudem erfolgt auch schon bei geringfügigem Überschreiten ein vollständiger Wegfall des Kinderzuschlags und damit eine erhebliche Reduzierung des Familieneinkommens.[5] Dies kann die Initiative hemmen, sich durch eigene Anstrengung von Sozialleistung unabhängig zu machen und ist daher ein negativer Anreiz zur Aufnahme oder zum Ausbau von Erwerbstätigkeit. Die BAGFW lehnt vor diesem Hintergrund die Beibehaltung der gesetzlich definierten Höchsteinkommensgrenze ab. Um die erheblichen Transferentzugsraten bei Überschreiten der gesetzlich definierten Höchsteinkommensgrenze zu vermeiden, muss der Kinderzuschlag mit wachsendem Einkommen degressiv auslaufen. Eine faktische Höchsteinkommensgrenze, ab der kein Kinderzuschlag mehr gewährt wird, ist auch über den Weg der Degression zu erreichen, hat aber den Vorteil, dass sich der Einkommenskorridor erweitert.
Vorschlag:
Die gesetzlich definierte Höchsteinkommensgrenze wird durch Streichung von § 6 a Abs. 1 Nr. 3 BKGG-E aufgehoben.
VI. Mängel in Verwaltungspraxis bleiben erhalten
Der Referentenentwurf beabsichtigt, dass mit der Vereinfachung der Anspruchsvoraussetzungen die Anzahl der unbegründet gestellten und damit abzulehnenden Anträge vermindert und die Bearbeitung der gestellten Anträge erleichtert wird[6].
Bewertung:
Die im Entwurf vorgesehene Veränderung der Anspruchsvoraussetzung führt nach Einschätzung der BAGFW nicht dazu, dass eine Verfahrensvereinfachung erreicht wird. Zwar führt die Neuregelung der Mindesteinkommensgrenze unter Wegfall von Absetzbeträgen und Vermögensberücksichtigung dazu, dass aufgrund der vorgelegten Einkommensnachweise schneller erkennbar ist, ob diese erreicht wird. Allerdings sind Absetzbeträge und Vermögen bei den weiteren Anspruchsvoraussetzungen, und zwar sowohl bei der Höchsteinkommensgrenze als auch bei der Prüfung, ob durch den Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II beseitigt wird, zu berücksichtigen. Durch die Neuregelung wird keine abgestimmte Prüfung der Behörden erreicht, da Leistungsberechtigte weiterhin zwischen Familienkasse, Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende und Wohngeldbehörde hin- und herverwiesen und hin- und hergeschickt werden, um Auskunft über die jeweiligen Leistungen zu erhalten bzw. diese zu beantragen.
[1] Bericht über die Auswirkungen des § 6 a BKGG sowie über die ggf. notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschrift, BT-Drs. 16/4670.
[2] Vgl. Information des BMFSFJ vom 13.06.2007: „Armutsrisiko senken – Kinderzuschlag ausbauen“, www.bmfsfj.de
[3] Becker, Irene/ Hauser, Richard 2007: Vom Kinderzuschlag zum Kindergeldzuschlag – Ein Reformvorschlag zur Bekämpfung von Kinderarmut. Forschungsbericht an die Hans-Böckler-Stiftung, Riedstadt/ Frankfurt am Main.
[4] Für eine Erhöhung des Kinderzuschlags um 10 € unter gleichzeitiger Neugestaltung des Instruments vgl. auch Becker, Irene/ Hauser, Richard 2007: Vom Kinderzuschlag zum Kindergeldzuschlag – Ein Reformvorschlag zur Bekämpfung von Kinderarmut. Forschungsbericht an die Hans-Böckler-Stiftung, Riedstadt/ Frankfurt am Main
[5] Vgl. Meister, ifo-Schnelldienst 16/2006, S. 12, 15 ff.
[6] Vgl. in der Begründung des Referentenentwurfs unter Teil A 3. b), S. 7.