Vorbemerkung
Lange Jahre war die Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland auf stationäre Behandlung beschränkt. Die ambulante psychiatrische Pflege wurde erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts im Rahmen von unterschiedlichen Modellprojekten aufgebaut. Allerdings wurden weder flächendeckende Angebote etabliert, noch besaßen diese eine geregelte Finanzierung. Vor diesem Hintergrund wird die vom Gemeinsamen Bundesausschuss vorgenommene Richtlinienänderung für häusliche psychiatrische Krankenpflege ausdrücklich begrüßt.
Auch wenn seit In-Kraft-Treten der Richtlinienänderung erst einige Monate vergangen sind, bestehen seitens der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege aber schon jetzt erhebliche Zweifel und Bedenken hinsichtlich der praktischen Umsetzung der Richtlinienänderung. Nach unserer Auffassung sind bei der ambulanten Versorgung psychisch kranker Menschen - auch nach der Richtlinienänderung - Versorgungslücken evident bzw. entstehen in der Praxis sogar neue Versorgungslücken. Dies möchten wir im Folgenden darstellen:
Versorgungssituation
Grundsätzlich haben die Versicherten nach der Genehmigung der Richtlinien durch das Bundesministerium für Gesundheit einen Rechtsanspruch auf Leistungen der häuslichen psychiatrischen Krankenpflege gegenüber ihrer Krankenkasse. Allerdings liegt die Anwendung der Richtlinie in der Zuständigkeit der Selbstverwaltung. Üblicherweise schließen die Krankenkassen dabei Verträge mit geeigneten Leistungserbringern auf Landesebene, in denen die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher psychiatrischer Krankenpflege, die Preise usw. geregelt werden. Nach derzeitigem Stand sind aber in keinem Bundesland landesweite Rahmenverträge mit Leistungserbringern geschlossen worden[1]. Das bedeutet wiederum, dass die Versicherten zwar einen Rechtsanspruch auf häusliche psychiatrische Krankenpflege haben, dieser aber aufgrund fehlender Verträge mit Leistungserbringern nicht umgesetzt werden kann. Darüber hinaus wurde uns seitens der Kassenärztlichen Vereinigung berichtet, dass die Ärzte bundesweit Probleme bei der Ausstellung von Verordnungen für häusliche psychiatrische Krankenpflege haben, weil die Leistungserbringung aufgrund der vertragslosen Situation in den Bundesländern nicht gewährleistet ist.
Vor diesem Hintergrund werden seitens der Leistungserbringer "Notlösungen" praktiziert, um den Rechtsanspruch der Versicherten zu wahren. So versuchen die Leistungserbringerverbände in Berlin betroffene Patienten zu unterstützen und Fachärzte zu motivieren, Verordnungen für häusliche psychiatrische Krankenpflege auszustellen. Diese werden dann mit Genehmigung der Krankenkassen auf der Basis mündlicher Vereinbarungen erbracht.
Als Gründe für das Scheitern landesweiter Rahmenvereinbarungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringerverbänden auf Landesebene werden auf der einen Seite die nicht erfüllbaren Forderungen der Krankenkassen hinsichtlich der vom Pflegedienst vorzuhaltenden Anzahl von Pflegefachkräften sowie deren Qualifikation und auf der anderen Seite eine für diese Forderungen nicht entsprechende Vergütung genannt. Im Einzelnen haben die Krankenkassen an die Pflegedienste
i. d. R. in jedem Bundesland die folgenden Forderungen gestellt:
Ø Der ambulante psychiatrische Dienst muss eine eigenständige Organisationseinheit bilden.
Ø Diese muss zwischen fünf und sieben Vollzeitkräfte beschäftigen.
Ø Alle Vollzeitkräfte müssen Pflegefachkräfte mit einer Fachweiterbildung Psychiatrie sein.
Ø Die Höhe der Vergütung soll sich im Verhältnis an der für Leistungen somatisch Kranker orientieren.
Diese von den Kostenträgern geforderten Qualitätsanforderungen an Pflegedienste stellen selbst für bereits seit Jahren tätige ambulante psychiatrische Fachpflegedienste (bspw. aus Nordrhein-Westfalen) kaum zu bewältigende Hürden dar. Für Pflegedienste der Regelversorgung, die psychiatrische häusliche Krankenpflege erbringen könnten, sind diese Hürden unüberwindbar. Auch die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege halten es für absolut notwendig, dass zur Versorgung dieses Klientels nur Pflegefachkräfte einzusetzen sind. Allerdings kann sich nach unserer Auffassung die Forderung nach einer Fachweiterbildung Psychiatrie allenfalls auf Leitungskräfte beziehen. Für alle weiteren Pflegefachkräfte halten wir psychiatrische Fortbildungen bzw. Berufserfahrung für angemessen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit keine ausreichende Anzahl an Pflegefachkräften mit einer Fachweiterbildung Psychiatrie zur Verfügung stellen kann. Unabhängig davon sind die Personalvorhaltungskosten für bis zu sieben Pflegefachkräfte speziell für die häusliche psychiatrische Krankenpflege grundsätzlich nicht zu realisieren, insbesondere im Hinblick auf die von den Krankenkassen gemachten Vergütungsangebote.
Für uns stellt sich die Situation so dar, dass seitens der Spitzenverbände der Krankenkassen versucht wird, die Anforderungen an die Leistungserbringer so hoch zu setzen, dass letztlich keine Vereinbarungen zur häuslichen psychiatrischen Krankenpflege zustande kommen. Wir halten diese Praktik der Krankenkassen für nicht hinnehmbar. Die ambulante psychiatrische Fachpflege ist darauf ausgerichtet, kostenintensive stationäre Aufenthalte zu vermeiden, und es den Betroffenen zu ermöglichen, in ihrem gewohnten Umfeld zu verbleiben. Wir fürchten, dass der Leistungsanspruch der Versicherten durch die Vorgehensweise der Krankenkassen nicht umgesetzt werden kann und die häusliche psychiatrische Krankenpflege damit ein ähnliches Schicksal wie die vor einigen Jahren eingeführte ambulante Soziotherapie erleiden wird.
Diese Befürchtung wird neben den bisherigen praktischen Erfahrungen auch durch die Arbeitshilfe zur Begutachtung häuslicher psychiatrischer Krankenpflege durch den MDK gestützt. So ist hiernach bspw. bei Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz gem. § 45a SGB XI die Plausibilität der Verordnung (Behandlungsfähigkeit, manifeste Umsetzung des Therapieziels) besonders kritisch zu hinterfragen und die zeitgleiche Leistungserbringung von Psychotherapie und häuslicher psychiatrischer Krankenpflege in der Regel ausgeschlossen.
Im Folgenden gehen wir noch auf einige spezifische Problemlagen der häuslichen psychiatrischen Krankenpflege ein, die zusätzlich die Versorgungssituation belasten:
Beschränkung der Leistungsdauer auf 4 Monate
Die zeitliche Begrenzung der Leistung häusliche psychiatrische Krankenpflege auf bis zu vier Monate wird den Besonderheiten psychisch chronischer Erkrankungen nicht gerecht. Je nach Schwere und Verlaufsform der jeweiligen psychiatrischen Erkrankung muss auch eine zeitlich längere bzw. nicht befristete Behandlung möglich sein. In diesem Zusammenhang möchten wir darüber hinaus darauf hinweisen, dass zahlreiche Krankenkassen - speziell in Nordrhein-Westfalen - den Umstand der Begrenzung der Verordnungsdauer auf vier Monate nutzen, um - ohne weitere Begründung - die Verordnung von häuslicher psychiatrischer Krankenpflege abzulehnen. Insgesamt führt diese Regelung zu einer Ungleichbehandlung der Versicherten. Psychisch kranke Menschen werden hinsichtlich ihres Leistungsanspruches deutlich schlechter gestellt als somatisch erkrankte Menschen. Darüber hinaus steht diese Regelung dem Ziel der vorrangigen Gewährung von ambulanten Hilfen in der Praxis entgegen. Obwohl nach unserer Erfahrung die durchschnittlichen Kosten von ambulanter psychiatrischer Pflege deutlich unter denen der stationären Versorgung liegen, wird diese Regelung zu vermehrten stationären Einweisungen führen.
Für gleichfalls problematisch halten wir den für eine Erstverordnung festgelegten Zeitraum von 14 Tagen, um zu prüfen, ob Pflegeakzeptanz und Beziehungsaufbau zu erreichen sind. Gerade bei psychisch kranken Menschen kann die Anwesenheit von zu Beginn der Kontaktaufnahme fremden Pflegefachkräften zu negativen Beeinträchtigungen und Störungen der gewohnten Alltagsabläufe führen. Da bei dieser Personengruppe Kontinuität und Vertrautheit einen entscheidenden Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben, halten wir zur Prüfung der Pflegeakzeptanz und des Beziehungsaufbaus einen Zeitkorridor von 28 Tagen für fachlich notwendig. Des Weiteren ist eine Einschränkung auf höchstens zwei Einsätze täglich eine Leistungseinschränkung, die eine intensive Begleitung im Rahmen einer Krisenintervention unmöglich macht. Hier muss nach unserer Auffassung der jeweilige Einzelfall im Vordergrund stehen.
Einschränkung der häuslichen psychiatrischen Krankenpflege auf bestimmte Diagnosegruppen
Die Beschränkung der häuslichen psychiatrischen Krankenpflege auf bestimmte Diagnosegruppen ist fachlich nicht nachvollziehbar und widerspricht abermals dem Grundsatz der Gleichbehandlung. Faktisch ausgegrenzt werden bspw. alle Personen mit chronischen psychischen Erkrankungen. Außerdem ist häusliche psychiatrische Krankenpflege nicht verordnungsfähig bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (ICD-10, F 60-69), Borderline sowie bei schweren Belastungs- und Konversionsstörungen wie bspw. Posttraumatische Belastungsstörung oder dissoziative Störungen (F 43 und F 44). Diese Krankheitsbilder treten verstärkt bei jüngeren Erwachsenen auf. Durch die Einschränkung der häuslichen psychiatrischen Krankenpflege auf in der Richtlinie genannte Diagnosen erhalten diese - in der Vergangenheit nicht unerhebliche - Patientengruppen schon heute keine adäquate Versorgung in ihrer Häuslichkeit. Dies trifft insgesamt auch für den Bereich der Sucht- und Abhängigkeitsstörungen in Kombination mit psychiatrischen Erkrankungen zu. Hier befürchten wir, dass es zukünftig zu einem Leistungsausschluss für Patienten mit Doppeldiagnosen im Suchtbereich kommen könnte.
Spezifische Situation der Häuslichen Psychiatrischen Krankenpflege in Nordrhein-Westfalen
Nach diversen Modellversuchen wurde psychiatrische Krankenpflege schon im Jahre 1992 in den Rahmenvertrag gem. §§ 132, 132 a SGB V aufgenommen. Parallel dazu wurden Personalkostenzuschüsse durch Landesmittel geleistet. Schon in der Vergangenheit gab es vereinzelt immer wieder Vorstöße von Krankenkassen, in einzelnen Kommunen aufgrund von Chronifizierung psychiatrischer Erkrankungen Leistungen bis höchstens sechs Monate zu gewähren. Durch die Richtlinienänderung und der damit verbundenen Beschränkung der häuslichen psychiatrischen Krankenpflege auf vier Monate hat sich diese Situation zwischenzeitlich zugespitzt. Unsere Einrichtungen haben existenziell damit zu kämpfen, dass Krankenkassen diesbezügliche Ablehnungsschreiben an ihre Versicherten versenden. Mit dem Hinweis auf die neuen Richtlinien wird die häusliche psychiatrische Krankenpflege damit flächendeckend eingestellt.
Vereinzelt findet von Seiten der Träger der Versuch statt, die Versorgung der psychiatrisch Erkrankten über das so genannte Betreute Wohnen, also eine durch öffentliche Mittel durch die Landschaftsverbände finanzierte Versorgungsart, zu gewährleisten. Dieses Vorgehen beruht zum Teil auch auf den Ablehnungsbescheiden der Krankenkassen, in denen steht, dass die Weiterführung der Hilfen zwar sinnvoll und erforderlich, wegen der Chronizität der Erkrankung aber eine psychosoziale Begleitung sei und deshalb zu Lasten des Sozialhilfeträgers erbracht werden müsse. Das Problem hierbei ist jedoch, dass einerseits überörtliche Sozialhilfeträger den SGB V-Bereich „subventionieren“ (sollen), andererseits aber auch diese Leistung nicht überall in ausreichendem Maße und ausreichender medizinisch-pflegerischer Qualität vorhanden ist, um Versorgungslücken aufzufangen.
Zudem hat aktuell der Landschaftsverband Westfalen-Lippe unmissverständlich mitgeteilt, dass er die Finanzierung der psychiatrischen Krankenpflege auf keinen Fall übernehmen wird. Er beruft sich dabei auf das SGB XII. Danach dürfen sich die Leistungen nicht von denen der vorrangigen Leistungsträger unterscheiden; sind die Leistungen nach deren Regeln zeitlich begrenzt oder mangels Indikation nicht vorgesehen, können sie nicht durch solche der Sozialhilfe verlängert oder ersetzt werden. Genau an diesem Punkt sitzen sowohl die psychiatrisch Erkrankten als auch die Träger der psychiatrischen Krankenpflege in NRW zwischen allen Stühlen.
Die oben aufgezählten Sachverhalte haben uns dazu veranlasst, diesen Bericht zu verfassen. Diesbezüglich bitten wir das BMGS, seinen Einfluß auf die Spitzenverbände der Krankenkassen geltend zu machen, damit psychisch kranke Menschen gemäß dem Grundsatz ambulant vor stationär ihren Anspruch auf psychiatrische häusliche Krankenpflege einlösen können.
[1] In einigen wenigen Bundesländern gibt es vereinzelte Vereinbarungen zwischen Krankenkassen und spezialisierten ambulanten Pflegediensten. Diese beruhen i. d. R. auf vorangegangene Modellversuche (bspw. in Bremen und Niedersachsen).