Stellungnahme der BAGFW zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (BT-Drucksache 16/99)

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege nimmt nachfolgend Stellung zu dem o. g. Gesetzgebungsvorhaben unter Einschluss des Änderungsantrages der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vom 7. Feb. 2006 (Ausschussdrucksache 16(11)80.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege nimmt nachfolgend Stellung zu dem o. g. Gesetzgebungsvorhaben unter Einschluss des Änderungsantrages der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vom 7. Feb. 2006 (Ausschussdrucksache 16(11)80.

 

Vorab ist festzuhalten, dass dieser Änderungsantrag sich zwar bereits in der Koalitionsvereinbarung abgezeichnet hat, in seiner Konkretion aber zu einem Zeitpunkt vorgelegt wurde, der weder den Sachverständigen noch den Mitgliedern des Deutschen Bundestages eine angemessene Zeit der Prüfung und Bewertung gelassen hat. Die Gegenstände dieses Antrages sollten deshalb zurückgestellt und Teil des angekündigten Optimierungsgesetzes werden, dessen Inkrafttreten für den 1. Juli 2006 vorgesehen ist.

 

Hierdurch würde kaum Zeit verloren gehen. Gleichzeitig bestünde aber Aussicht auf eine abgewogene und solide Gesetzgebung aus einem Guss.

 

 

Artikel 1 (Änderung des SGB II)

 

Die Streichung des § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist eine zutreffende Folgeänderung zur Eingliederung des Gedankens des § 34 SGB XII in das SGB II. Der Gesetzesbefehl müsste jedenfalls dahin erweitert werden, dass Satz 3 zu Satz 2 wird.

 

Die Ausweitung der Bedarfsgemeinschaft auf bis zu 24 Jahre alte unverheiratete Kinder in § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II steht nicht im Einklang mit geltendem Unterhaltsrecht. Die Eltern haben auch keine Einwirkungsmöglichkeiten auf das Erwerbsverhalten ihrer volljährigen Kinder. Sie werden mit einer Regelung, die über die Einstandsvermutung des § 9 Abs. 5 SGB II hinausgeht, überfordert, ohne in irgendeiner Weise die Bedürftigkeit oder Erwerbstätigkeit ihrer Kinder beeinflussen zu können. Sie müssen sogar damit rechnen, dass etwaige Sanktionen nach § 31 SGB II sich faktisch auch auf sie auswirken. Eine derart weitgehende Einstandsregelung ist abzulehnen. Es kann bei § 9 Abs. 5 SGB II verbleiben – ggf. mit Verschärfung der Darlegungslast zur Widerlegung der gesetzlichen Vermutung.

 

Ebenso ist die Ausweitung der Bedarfsgemeinschaft auf (nicht)eheliche Stiefelternverhältnisse in § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II strikt abzulehnen. Mit der geplanten Neuregelung wird die Neubildung von Familienstrukturen verhindert. Partnerschaften werden nicht eingegangen, weil hieran die Einstandspflicht für die Kinder neuer Partnerinnen oder Partner geknüpft wäre. Auch für diese Konstellation muss es bei der Einstandsvermutung des § 9 Abs. 5 SGB II verbleiben.

 

Die Änderungen des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sind aus den vorgenannten Gründen abzulehnen.

 

Die Änderung des § 9 Abs. 4 SGB II erscheint sinnvoll.

 

Die Änderung des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II ist als Folgeänderung konsequent. Da jedoch die Änderungen des § 7 Abs. 3 SGB II nicht erfolgen dürfen, besteht insoweit kein Bedarf an dieser Änderung.

 

Die Streichung des § 20 Abs. 1 Satz 2 SGB II ergibt sich richtigerweise aus der Streichung des § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB II.

 

Die Anhebung des Regelsatzes Ost auf 345 EURO in § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Dabei sind jedoch noch nicht berücksichtigt worden die inzwischen eingetretene Kostensteigerung bei Haushaltsenergie, die dramatische Reduzierung der Länderbeiträge zur Lernmittelfreiheit und die in 2007 zu erwartende Kostensteigerung durch die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer.

 

Es kann bei der Ost-/West-Anpassung des Regelsatzes nicht bleiben. In einem weiteren Schritt muss die EVS 2003 schnellstmöglich nach den Vorgaben des § 28 SGB XII ausgewertet werden. Das Ergebnis dieser Auswertung muss dann noch in diesem Jahr seinen Niederschlag in § 20 Abs. 2 SGB II finden.

 

Darüber hinaus ist § 20 Abs. 2 SGB II wie § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII um eine Öffnungsklausel für atypische Bedarfslagen (z. B. Kosten des von Art. 6 GG geschützten und gebotenen Umgangsrechts oder krankheitsbedingte Kosten, die nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen werden) zu erweitern. Nur so kann das SGB II armutsfest gestaltet werden. Ohne eine solche Öffnungsklausel besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass die Regelung für verfassungswidrig erklärt wird. Die Sozialgerichte Lüneburg und Stuttgart haben mit einer großzügigen Interpretation des geltenden § 20 Abs. 2 SGB II ein solches Verdikt gerade noch vermieden.

 

Der Ansatz des § 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II, den Regelsatz der weiteren volljährigen Haushaltsmitglieder zu begrenzen, ist nachvollziehbar. Wirklich überzeugend wäre allerdings eine Regelleistung von jeweils 90% bei zwei und mehr volljährigen Erwerbsfähigen im Haushalt.

 

§ 20 Abs. 2a SGB II ist eine Folgeänderung zu § 22 Abs. 2a SGB II. Auf die Ausführungen zu dieser Vorschrift wird verwiesen.

 

Bezüglich § 20 Abs. 3 SGB II wird auf die Ausführungen zu § 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II verwiesen.

 

Der Ansatz des § 22 Abs. 2a SGB II schränkt die Handlungsfreiheit der unter 25jährigen massiv ein. Abgesehen von erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken wird in die Verselbständigungsprozesse junger Erwachsener eingegriffen. Sofern an dieser Regelung festgehalten wird, ist sicherzustellen, dass Entscheidungen nicht rein fiskalisch erfolgen. Deshalb sollte in § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 und 3 SGB II jeweils das Wort „schwerwiegenden/er“ gestrichen werden.

 

Die geplante Neuregelung wäre allerdings stimmiger, wenn keine Änderungen des § 7 Abs. 3 SGB II erfolgen würden. Genau diese Änderungen sind es nämlich, die die Familiensolidarität überstrapazieren und die heranwachsenden (Stief)Kinder zu einem Auszug aus dem Elternhaushalt treiben. Wir plädieren deshalb dafür, § 7 Abs. 3 SGB II nicht zu ändern, sondern es bei der Vermutungsregel des § 9 Abs. 5 SGB II zu belassen.

 

Die Darlehensregelung für Mietkautionen in § 22 Abs. 3 Satz 3 SGB II ist sachgerecht. Es muss allerdings klar gestellt werden, dass es sich nicht um ein Darlehen nach § 23 Abs. 1 SGB II handelt. Die Rückzahlung hat vielmehr erst dann zu erfolgen, wenn die Kaution wegen Beendigung des Mietverhältnisses wieder frei wird oder Hilfebedürftigkeit wegen Verbesserung der Einkommens- und Vermögenssituation nicht mehr gegeben ist.

 

Die Angleichung des § 22 Abs. 5 und 6 SGB II an die entsprechenden Bestimmungen des SGB XII dient dazu, den bisherigen Verschiebebahnhof zwischen den beiden Systemen SGB II und SGB XII zu beenden und den von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen schnellstmögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Die Angleichung muss jedoch vollständig erfolgen, indem auch im Bereich SGB II die Übernahme von Mietschulden nicht nur ausnahmsweise als Beihilfe zugelassen wird. Eine reine Umschuldung ist vielfach nicht sachgerecht. Die Hilfeleistung darf auch nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Betroffenen im laufenden Leistungsbezug stehen.

 

Die erforderliche Angleichung der Fürsorgesysteme kann auch durch eine Verweisung auf § 34 SGB XII in § 22 Abs. 5 SGB II erreicht werden.

 

Die Darlehensregelung des § 23 Abs. 5 SGB II erscheint sachgerecht. Es ist allerdings klarzustellen, dass es sich nicht um ein Darlehen im Sinne § 23 Abs. 1 SGB II handelt, sondern eine Rückzahlung erst dann erfolgen muss, wenn die Hilfebedürftigkeit nicht mehr besteht oder das vorhandene Vermögen verwertet werden kann.

 

Der Ansatz des § 23 Abs. 6 SGB II wird nachvollzogen. Die Transparenz der Regelungen würde erhöht, wenn der Sinngehalt der Regelung in § 22 Abs. 2a SGB II aufgenommen würde.

 

Die Änderung des § 24 Abs. 3 Nr. 3 SGB II ist eine konsequente Folgeänderung, die allerdings obsolet wird, wenn man unserer Ablehnung einer Änderung des § 7 Abs. 3 SGB II folgt.

 

Die Änderung des § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB II erscheint sachgerecht.

 

§ 68 SGB II ist unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten nicht nachvollziehbar. Es handelt sich wohl um eine Kapitulation vor einer unzulänglichen EDV-Ausstattung.

 

 

 

Artikel 2 (Änderung des SGB VI)

 

Die Änderung des § 3 SGB VI ist abzulehnen. Die Abschaffung der Rentenversicherungspflicht für erwerbstätige ALG II-Bezieher konterkariert alle sinnvollen und hoffnungsvollen Ansätze einer Kombilohndiskussion.

 

Ebenso abzulehnen ist die Absenkung des Bemessungsentgelts in § 166 SGB VI. Der lapidare Verweis auf die Koalitionsvereinbarung in der Begründung ersetzt nicht die Pflicht der Legislative, für eine vernünftige Regelung zu sorgen. Vernünftig sind jedenfalls nicht Mini-Anwartschaften auf Rentenleistungen, die für viele Langzeitarbeitslose zwangsläufig in der Grundsicherung im Alter münden. Vernünftig ist auch nicht die Lastenverschiebung in die Zukunft. Im Gegenteil verstößt die Regelung gegen die an anderer Stelle propagierte gerechte Verteilung von Lasten zwischen den Generationen. Der Ausfall von Rentenversicherungsbeiträgen für ALG II-Bezieher wird überdies zu einer Erhöhung des Bundeszuschusses oder zur Beitragserhöhung  und damit zu einer Erhöhung der Lohnnebenkosten führen. Schlussendlich beschädigen Mini-Anwartschaften das Rentenversicherungssystem bei den Langzeitarbeitslosen und in der Bevölkerung insgesamt in einer Weise, die zur Vermeidung rentenversicherungspflichtiger Beschäftigung geradezu aufruft. Hat nicht der Gesetzgeber soeben bei Schaffung des SGB II versprochen, mit dem Bezug von ALG II sei eine Absicherung in der Rentenversicherung verbunden, die den Rückgriff auf Fürsorgeleistungen erübrigt?

 

 

Artikel 3 (Änderung des SGB XII)

 

Es handelt sich hier um eine notwendige und sinnvolle Folgeänderung.

 

 

Artikel 4 (Änderung des Bundeskindergeldgesetzes)

 

Die Änderungen zum Kindergeldzuschlag sind folgerichtig. Allerdings ist weitergehend zu hinterfragen, ob die derzeitige Ausgestaltung nicht in einem völlig unsinnigen Kosten-/Nutzen-Verhältnis steht. Die Regelung ist schlicht zu kompliziert. Diese Kompliziertheit hat bekanntlich dazu geführt, dass nur 10% der Anträge bewilligt werden konnten, weil die Antragsteller ihre Chancen auf die Leistung nicht abschätzen konnten.

 

 

Weitergehender Regelungsbedarf

 

Wir greifen noch einmal unsere Eingangsbemerkung auf, wonach sich dieses Gesetzgebungsverfahren auf den ursprünglichen Ansatz der Regelsatzanpassung Ost/West beschränken sollte. Alle weiteren Gegenstände sollten dem zu erwartenden Optimierungsgesetz überlassen werden.

 

 

In einem solchen Gesetzgebungsvorhaben muss insbesondere noch bearbeitet werden:

 

Es muss eine gesetzliche Klarstellung in § 3 Abs. 2 SGB II erfolgen, wonach Jugendliche, die nicht unmittelbar in eine Ausbildung oder Arbeit vermittelt werden können, Zugang zu allen Eingliederungsleistungen des SGB II erhalten.

 

§ 7 Abs. 4 SGB II ist zu streichen oder differenziert zu konkretisieren. Nach geltender Fassung schließt er z. B. Jugendliche in stationären Einrichtungen von den Leistungen des SGB II aus, obgleich unstrittig sein dürfte, dass gerade dieser Personenkreis alle Hilfen des SGB II erhalten muss. Ein sachgerechter Ansatz bietet die folgende Formulierung:

 

„Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer für länger als sechs Monate in einer vollstationären Einrichtung lebt und durch Maßnahmen in der stationären Einrichtung eine Arbeit nicht aufnehmen kann oder Rente wegen Alters bezieht.“

 

Die Sanktionsinstrumente des § 31 SGB II sind insbesondere im Hinblick auf Jugendliche zu differenzieren und zu flexibilisieren.