Vorbemerkungen
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) begrüßt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die partnerschaftliche Einbeziehung der Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Europäischen Semesters kontinuierlich fortsetzt. Gerne nutzt die BAGFW die Gelegenheit für eine gemeinsame Stellungnahme zum vorgelegten Entwurf des Nationalen Reformprogramms 2017 (NRP).
Beteiligungsverfahren
Die BAGFW weist erneut und nachdrücklich darauf hin, dass die Fristsetzung im Hinblick auf eine ausreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft (siehe Ziff. 156) – zumindest der freien Wohlfahrtspflege – an der Erstellung des NRP zu knapp bemessen ist. Der Entwurf des NRP wurde vom BMAS am 8. März 2017 mit Rückmeldefrist bis zum 15. März 2017 versandt. Diese Rückmeldefrist wurde um zwei Tage verlängert auf den 17. März 2017.
Kommentierte Kapitel
Die Kommentierung konzentriert sich auf die nachfolgenden Bereiche des NRP 2017:
· Abschnitt II (Bewältigung gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen)
o B. Private Investitionen stärken, Wettbewerb weiter beleben (Vergaberecht)
o C. Anreize für Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren
· Abschnitt III (EU-2020 Kernziele)
o A. Beschäftigung fördern
o D. Bildungsniveau verbessern
o E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern
1. „II.B. Private Investitionen stärken, Wettbewerb weiter beleben
Vergaberecht umfassend modernisieren“ (Ziff. 59f.)
Die Bundesregierung plant, den Wettbewerb weiter zu beleben. Dies will sie insbesondere durch das im April 2016 modernisierte Vergaberecht erreichen. Oberhalb des Schwellenwerts von 750.000 € sollen insbesondere geänderte Anforderungen die Vergabe sozialer Dienstleistungen erleichtern. Auftraggeber haben in Zukunft stärker die Möglichkeit, bei der Auftragsvergabe soziale, ökologische und innovative Kriterien zu berücksichtigen.
Die zentralen Neuerungen des Oberschwellenbereichs im Hinblick auf Verfahren und Struktur sollen überwiegend auch für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte gelten.
Die BAGFW begrüßt grundsätzlich, dass dann, wenn zwingend nach Vergaberecht ausgeschrieben werden muss, wie etwa im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen, die Verfahrensarten flexibler gewählt werden können und auch Qualitätskriterien in Zukunft eine stärkere Rolle spielen sollen. Eine Vereinheitlichung der Verfahren im Ober- und Unterschwellenbereich ist ebenfalls sinnvoll.
Allerdings fehlt das Bekenntnis der Bundesregierung, dass der Markt der sozialen Dienstleistungen überwiegend nicht durch eine Finanzierung über Vergabe reguliert werden darf. Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis ist das bewährte und dominierende Modell zur Ordnung des Marktes der sozialen Dienstleistungen. Es garantiert das Wunsch- und Wahlrecht hilfesuchender Bürgerinnen und Bürger, wodurch wiederum der Wettbewerb gesteuert wird. Das sozialrechtliche Dreieckverhältnis ist Ausdruck des in den Sozialgesetzbüchern verankerten Subsidiaritätsprinzips und sichert die Vielfalt der Leistungsangebote.
Wie die Bundesregierung ausführt, erleichtert das neue Vergaberecht die Einrichtung zentraler Beschaffungsstellen. Im Markt sozialer Dienstleistungen ist aber gerade eine stärkere Dezentralisierung notwendig, damit die jeweils vor Ort bestehenden sozialen Bedarfe durch ein Zusammenwirken zwischen Kostenträgern (Kommunen, Sozialversicherungen) und Leistungserbringern bestmöglich ermittelt und Leistungsangebote flexibel gestaltet werden können.
Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, zu verdeutlichen, dass der Wettbewerb im Bereich sozialer Dienstleistungen primär durch das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten garantiert wird. Eine Weiterbelebung des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zielt auf sozialen Ausgleich, sichert Handlungs- und Wahlfreiheit, setzt Anreize für eine gute Dienstleistungserbringung, kann eine effiziente Ressourcennutzung befördern, Machtkonzentrationen und Abhängigkeiten entgegenwirken und Innovationen ermöglichen.
2. „II.C. Anreize für Erwerbsbeteiligung erhöhen, Flüchtlinge bestmöglich integrieren“
· Anreize für einen späteren Renteneintritt setzen (Ziff. 73)
Die Einführung der Flexirente soll den Umfang der Erwerbstätigkeit der Menschen über 60 erhöhen. Die grundsätzlich höhere Flexibilität bei der Kombination von Rentenbezug und Erwerbstätigkeit sowie der freiwilligen Zahlungen in die Rentenversicherung ist begrüßenswert.
· Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen zügig voranbringen (Ziff. 81f.)
Der Bericht widmet sich in einem gesonderten Teil der Arbeitsmarktintegration von Asylbewerber(inne)n, anerkannten Flüchtlingen und Geduldeten. In den Blick genommen werden dabei die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen im Bereich der rechtlichen Zugangsvoraussetzungen des Deutsch-Spracherwerbs sowie der Ausbildung und aktiven Arbeitsmarktpolitik für die Zielgruppe (Ziff. 82ff.). Die BAGFW kritisiert die einseitige Betrachtung, welche die Verantwortung der Unternehmen bei der Integration von Geflüchteten in Ausbildung und Arbeit außer Acht lässt. Aus Sicht der BAGFW sind weitere Anstrengungen zum Abbau von Vorbehalten und Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten für einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt notwendig.
Die BAGFW begrüßt, dass die Bundesregierung die Bedeutung von Ausbildung und Arbeit für Geflüchtete und Geduldete, aber auch für die Gesellschaft hervorhebt (Ziff. 81). Die arbeitsmarktrelevanten Änderungen, die im Rahmen des Integrationsgesetztes beschlossen wurden (u.a. Aussetzen der Vorrangprüfung, die Ausbildungsduldung für die gesamte Dauer der Ausbildung), sind positiv hervorzuheben (Ziff. 82). Vor dem Hintergrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels erscheint es jedoch paradox, weiterhin an der sogenannten „guten Bleibeperspektive“ festzuhalten. Die Wohlfahrtsverbände kritisieren in diesem Zusammenhang auch, dass die Ausbildungsduldung in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich angewendet wird. Behördliche Hürden und Rechtsunsicherheiten hindern die Aufnahme einer Ausbildung. Hier ist eine Gesetzesänderung erforderlich, welche die Aufnahme einer Ausbildung für Asylsuchende, unabhängig von ihrem Herkunftsstaat, ermöglicht. Die BAGFW fordert die Bundesregierung daher auf, auch im eigenen Interesse, Potentiale unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus zu fördern. Die BAGFW erneuert ihre Forderung, dass nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung, ein dauerhaftes Bleiberecht in Aussicht gestellt werden soll.
Die BAGFW stimmt der Bundesregierung zu, dass zunächst Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Herkunftsland erworben wurden, festgestellt werden müssen, damit eine zielgerichtete Vermittlung in Ausbildung und Arbeit erfolgen kann. Die Bundesregierung hebt diesbezüglich das Engagement der Länder hervor. Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die Kommunen, zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte und die zahlreichen ehrenamtlich Engagierten bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche einen wesentlichen Anteil haben. Von den derzeit nach Deutschland kommenden Asylsuchenden sind über 50 Prozent junge Menschen unter 25 Jahren, die größtenteils noch einen Schul- und Berufsabschluss erwerben müssen. Die Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, dass Qualifizierung immer Vorrang vor geringqualifizierter Arbeit haben soll. Monatlich gelangen ca. 10.000 Menschen nach ihrer Anerkennung in den Rechtskreis des SGBII. Eine Orientierungsberatung findet häufig erst in dieser Phase des Aufenthaltes statt. Die Jobcenter sind jedoch aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ausstattung kaum in der Lage, die vielen Menschen in eine qualifizierte Berufsausbildung bzw. in einen Beruf zu vermitteln. Eine gute Beratung ist für alle Menschen im Leistungsbezug des SGB II wichtig. Durch die zusätzlichen Förderbedarfe im Rahmen der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten müssen die finanziellen Mittel der Jobcenter aufgestockt und Personal für den spezifischen Beratungsbedarf qualifiziert werden.
Im Rahmen des Arbeitsmarktprogramms Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen wurde durch den Gesetzgeber ermöglicht, dass die Maßnahme auch bei der Anerkennung und dem damit verbundenen Rechtskreiswechsel weitergeführt werden kann. Diese Entwicklung begrüßt die BAGFW. Aufgrund der Ausgestaltung des Programms sind FIM hauptsächlich als tagesstrukturierende Maßnahme zu betrachten und weniger als Heranführung an den Arbeitsmarkt, wie von der Bundesregierung dargelegt. Die Wohlfahrtsverbände setzten sich dafür ein, in Regelinstrumente der Arbeitsförderung für alle Asylsuchenden und Geduldeten zu investieren und nicht in Sonderprogramme. Ziel muss es sein, passgenau, individuell und sinnvoll zu fördern, insbesondere bei der Vermittlung von jungen Menschen. Gute Instrumente der Arbeitsförderung im SGB III (S.44) liegen bereits vor. Die BAGFW begrüßt den erleichterten Zugang zu diesen Maßnahmen.
3. „EU-2020 Kernziele: Erzielte Fortschritte und Maßnahmen“
· Zielsetzungen (Ziff. 83f. sowie Tabelle vor Ziff. 85)
Die nationalen EU-2020 Kernziele in den Bereichen „Beschäftigung fördern“, „Bildungsniveau verbessern“ und „Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“ sind erreicht. Diese Entwicklung ist erfreulich und wird von der BAGFW begrüßt.
Die BAGFW begrüßt auch die Aussage der Bundesregierung, dass trotz einer positiven Zwischenbilanz hinsichtlich der EU-2020 Kernziele in allen Bereichen weitere Anstrengungen notwendig und sinnvoll seien (Ziff. 83). Dies entspricht der Auffassung der BAGFW. Die BAGFW würde allerdings begrüßen, wenn das Bekenntnis zu weiteren Anstrengungen mit einer Anpassung der quantitativen Ziele hinterlegt würde.
Eine Anpassung der Zielsetzung ist gerade im Bereich „Soziale Eingliederung vor allem durch Verringerung von Armut fördern“ notwendig. Der nationale Indikator „Anzahl der Langzeitarbeitslosen reduzieren“ bildet nämlich nur einen Teil der Armutsrisiken in Deutschland ab. (siehe hierzu auch Kapitel „Soziale Eingliederung vor allem durch Verringerung von Armut fördern“). Die verschiedenen Dimensionen von Armutsrisiken und Mangellagen müssen besser abgebildet werden. Die Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ist deshalb ein wichtiges Element der Armutsbekämpfung, reicht aber allein nicht aus. Auch Armutsrisiken von Menschen, die nicht mehr oder noch nicht am Erwerbsleben teilnehmen, müssen stärker in den Fokus gerückt werden. Die Einbeziehung weiterer Indikatoren, wie z.B. der relativen Einkommensarmut, der materiellen Deprivation oder der Verweildauer im Bezug existenzsichernder Sozialleistungen ist erforderlich. Die Bundesregierung selbst verwendet in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht den Indikator relative Einkommensarmut, und hat in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zur Agenda 2030 bei der Armutsbekämpfung den Indikator materielle Deprivation verwendet. Multikausale Armut muss durch unterschiedliche Indikatoren abgebildet und durch kohärente Indikatoren einheitlich von der Bundesregierung gemessen werden.
· „A. Beschäftigung fördern“
o Rahmenbedingungen für Erwerbsbeteiligung verbessern (Ziff. 86 bis 89)
In diesem Kapitel werden die Maßnahmen der Bundesregierung zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und damit zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen – dargestellt. Darüber hinaus wird die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung thematisiert. Beide Ziele werden exklusiv in den Kontext der demographischen Entwicklung und eines schon festgestellten oder für die Zukunft erwarteten Mangels qualifizierter Kräfte auf dem Arbeitsmarkt gestellt. Die BAGFW hält diese einseitige Kontextualisierung für problematisch. Die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von strukturell benachteiligten Gruppen steht zwar im Kontext volkswirtschaftlicher Zusammenhänge, ist aber auch eine Frage der Teilhabegerechtigkeit.
Die Arbeitsförderung muss grundsätzlich stärker an den Bedürfnissen von Frauen und ihren häufig unterbrochenen Erwerbsbiographien ausgerichtet werden. Trotz der bisher unternommenen Anstrengung, öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten auszubauen, besteht hier weiter ein erheblicher Handlungsbedarf, insbesondere bei der Qualität sowie bei Betreuungsangeboten auch zu Randzeiten.
Die Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere die Weiterentwicklung der Pflegezeit- und Familienpflegezeit, werden von der BAGFW begrüßt. Sie hatte sich für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Familienpflegezeit und die Verknüpfung der Familienpflegezeit mit der Pflegezeit ausgesprochen. Allerdings sollten für den Rechtsanspruch auf die Freistellungsmöglichkeiten jeweils die gleichen Betriebsgrößen gelten. Des Weiteren setzt sich die BAGFW für eine stärkere Flexibilisierung der kombinierten Inanspruchnahme der Freistellungen nach der Familienpflegezeit und der Pflegezeit ein, um den Arbeitnehmern die maximale Ausschöpfung beider Freistellungen für die Höchstdauer von 24 Monaten zu ermöglichen.
Die Situation Alleinerziehender wird jedoch bei den Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht ausreichend berücksichtigt. Dazu wäre neben einer Verbesserung der Kinderbetreuungssituation eine bessere wirtschaftliche Absicherung der Kinder – etwa über ein eigenständiges System der Kindergrundsicherung – erforderlich. Außerdem ist die unzureichende Alterssicherung des Elternteils, das sich für die Erziehung der Kinder besonders engagiert, immer noch ein ungelöstes Problem. Dies betrifft Alleinerziehende in besonderer Weise.
In Bezug auf Menschen mit Behinderung ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesteilhabegesetz zwar substantielle Fortschritte mit sich bringt, in Bezug auf die Verbesserung der Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung noch weiterentwickelt werden sollte. So wird zwar bei Leistungen zur beruflichen Weiterbildung, die zu einem Abschluss in einem allgemein anerkannten Ausbildungsberuf führen und für die eine allgemeine Ausbildungsdauer von mehr als zwei Jahren vorgeschrieben ist, die mögliche Dauer von Weiterbildung durch die Neuregelung auf zwei Drittel der üblichen Ausbildungszeiten verlängert. Die Schlechterstellung der Auszubildenden mit Behinderungen bleibt jedoch bestehen.
o Fachkräftepotenzial stärken: Bildung und Ausbildung sowie qualifizierte Zuwanderung (Ziff. 90 bis 96)
Fachkräftemangel in der Pflege: Pflegeberufereformgesetz verabschieden (Ziff. 90)
Der Fachkräftemangel in der Pflege ist eine große Herausforderung des deutschen Gesundheitssystems. Die Weiterentwicklung der bisher getrennten Ausbildungen der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege hin zu einer einheitlichen Pflegeberufsausbildung ist darauf die richtige Antwort. Denn bereits heute sind in Pflegeeinrichtungen vertiefte medizinisch-pflegerische Kenntnisse für eine komplexe Behandlungspflege erforderlich. Zugleich steigt in den Krankenhäusern der Anteil pflegebedürftiger und demenziell erkrankter Menschen. Nur eine breit ausgerichtete Ausbildung qualifiziert zur Pflege von Menschen in allen Lebenssituationen und Altersphasen. Die BAGFW hofft daher, dass das Pflegeberufereformgesetz noch in der verbleibenden Zeit dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
Situation von Ausländern und qualifizierte Zuwanderung (Ziff. 94f.)
Insgesamt sind Ausländer(innen) am deutschen Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt. Sie haben schlechtere Bildungschancen und sind trotz der positiven Entwicklungsdynamik des Arbeitsmarktes überdurchschnittlich oft von Erwerbslosigkeit betroffen (11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Dezember 2016; Länderbericht Deutschland 2017, SWD(2017) 71 final, S. 4.) Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, Anstrengungen bei der Beseitigung migrationsspezifischer Benachteiligung am Arbeitsmarkt und im (Aus-)Bildungssystem zu unternehmen.
Deutschland benötigt Zuwanderung von Arbeitskräften. Bisher wird der Bedarf vorrangig durch die starke Zuwanderung von EU-Bürger(innen) gestillt. Es ist aber absehbar, dass diese zurückgehen wird. Zum einen, weil sich die Lebensbedingungen in den EU-Mitgliedstaaten mittel- und langfristig angleichen, und zum anderen, weil auch die mittel- und südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zunehmend vor vergleichbaren demographischen Problemen stehen wie Deutschland. Daher muss auch die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten zunehmend in den Blick genommen werden. Gleichzeitig sollte die weitere Zuwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten gefördert und die Qualifizierungsbedarfe zugewanderter EU-Ausländer(innen) besonders berücksichtigt werden.
Die BAGFW zählt die Mobilität der EU-Bürger(innen) zu den großen Errungenschaften der EU. Dieses Recht wird mit Blick auf Staatsangehörige ärmerer Mitgliedstaaten oder von gering Qualifizierten zunehmend in Frage gestellt. Für Menschen, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, die keine Berufsausbildung haben oder deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, ist es schwer eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Hier müsste mehr gefördert werden – auch um zu verhindern, dass die Notlage der Betroffenen in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ausgenutzt werden. Auch mit Blick auf EU-Ausländer(innen) muss die Beratung und die Existenzsicherung von Opfern von Arbeitsausbeutung und Menschenhandel sichergestellt werden.
Die Maßnahmen, die wie im NRP beschrieben die Zuwanderung von Fachkräften fördern sollen, sind noch nicht ausreichend. Um das Ziel zu erreichen, „die Zuwanderung und dauerhafte Integration von Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung nach Deutschland systematisch weiter zu erleichtern“ (Ziff. 94) müsste unbedingt das komplexe Zuwanderungsrecht vereinfacht werden. Stattdessen wird es durch immer neue Aufenthaltstitel und Regelungen immer unübersichtlicher. Die Maßnahmen, die die gesellschaftliche und soziale Integration fördern, reichen nicht aus. Und wenn sich Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe als attraktives Land positionieren will (Ziff. 95), muss es auch dafür Sorge tragen, dass ausreichend Wohnraum zur Verfügung steht (vgl. Länderbericht Deutschland 2017, SWD(2017) 71 final, S. 31) und der Diskriminierung von Migrant(inn)en auf dem Wohnungsmarkt entgegengewirkt wird. Diese Fragen werden jedoch im Abschnitt zum Wohnungsmarkt (Ziff. 150 ff.) nicht behandelt.
Die Verbände der BAGFW begrüßen, dass bei so genannten Engpassberufen die Zuwanderung vereinfacht wurde. Es wäre aber zu wünschen, dass die Positivliste schneller an die Realität angepasst wird.
· „D. Bildungsniveau verbessern“ (Ziff. 133 bis 141)
Deutschland erreicht die Bildungsziele, die es sich im Rahmen der EU-2020 Strategie gesetzt hat. Dabei muss aber betont werden, dass es innerhalb Deutschlands große regionale Unterschiede gibt. Dies gilt auch für den Schulabgang ohne Hauptschulabschluss (siehe etwa <link http: www.caritas.de bildungschancen>www.caritas.de/bildungschancen). Diese großen regionalen Unterschiede weisen darauf hin, dass es sowohl in den (Schul-)Systemen als auch auf örtlicher Ebene Potenzial für weitere Verbesserungen gibt.
Die starke Kopplung von sozioökonomischer Herkunft und Bildungschancen in Deutschland wird auch im Entwurf des Nationalen Reformprogramms beschrieben und als Handlungsfeld identifiziert. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft bleibt die zentrale Herausforderung unseres Bildungssystems. Kinder und Jugendliche brauchen eine gezielte Förderung in einer chancengerechten Schule, die flexibel, individuell, inklusiv und ganzheitlich Kinder begleitet und die Kooperation mit Eltern und Bezugspersonen pflegt. Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen brauchen eine niedrigschwellige Förderung, in deren Rahmen Angebote zur Förderung von Lern- und Leistungskompetenzen mit Maßnahmen zur Überwindung persönlicher und sozialer Problemlagen kombiniert werden. Hier haben sich Angebote der Schulsozialarbeit als besonders wirksam erwiesen, um insbesondere junge Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen frühzeitig zu erreichen. Auch in diesem Zusammenhang betont die BAGFW die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung für Kinder mit multiprofessionellen Teams und mit integrierten Jugendhilfeangeboten. Eine ausreichende Finanzierung von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen muss gewährleistet sein. Unfreiwillige Warteschleifen im Übergang von der Schule in die Ausbildung müssen abgebaut sowie das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen müssen gefördert werden.
· „E. Soziale Eingliederung vor allem durch die Verringerung von Armut fördern“ (Ziff. 142 bis 159)
Die Armutsrisikoquote in Deutschland hat sich trotz der guten Arbeitsmarktsituation in den vergangenen Jahren nicht verbessert, sondern ist sogar leicht angestiegen. Diese Entwicklung weisen alle verfügbaren Datenquellen aus. Insofern ist die Begründung im NRP, das angestiegene Armutsrisiko sei zum Teil durch eine Änderung der Stichprobenkonzentration in der herangezogenen Datenquelle (SOEP) bedingt nicht nachvollziehbar. Besorgniserregend ist die Erhöhung des Armutsrisikos trotz Erwerbstätigkeit („Armut trotz Arbeit“) in Deutschland, insbesondere durch prekäre Beschäftigung. Vor dem Hintergrund eines gestiegenen Armutsrisikos bei sinkender Arbeitslosigkeit wird deutlich, dass sich die Bundesregierung weitaus mehr armutspolitischen Herausforderungen stellen muss, als beim bloßen Blick auf den nationalen Indikator ersichtlich ist (zur Eignung des Indikators siehe das Kapitel Zielsetzungen auf Seite 5). Die Reduzierung von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit ist wichtig, um Armut und soziale Ausgrenzung zu verringern, sie reicht aber nicht aus. Ausreichend ausgestattete Grundsicherungssysteme, die Verringerung sogenannter verdeckter Armut, die Prävention vor Altersarmut, der Abbau von Armutsrisiken trotz Erwerbstätigkeit, chancengerechte Bildungssysteme und Hilfen für benachteiligte Kinder, Jugendliche, Familien und Erwachsene sind notwendig um Armutsrisiken zu reduzieren.
Vor diesem Hintergrund sind die politischen Schwerpunkte im Europäischen Semester und in anderen europäischen und nationalen Politikprozessen neu zu justieren, um eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung zu gewährleisten und damit auch die zurzeit fast vergessene Europa 2020-Strategie wieder sichtbar zu machen.
Armutsbekämpfung ist mehr als Arbeitsmarktpolitik, so dass die BAGFW die Bundesregierung dazu ermuntert, das Indikatorenset zur Erfassung von Armut so zu erweitern, dass eine umfassende Bekämpfung der Armutsgefährdung gewährleistet wird.
o Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft fördern (Ziff. 143 bis 146)
In dem Kapitel werden verschiedene Maßnahmen aufgeführt, wie die Integration von (Langzeit-)Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft gefördert werden kann. Bestimmte Personengruppen wie Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen (z.B. Suchtkranke oder psychisch Kranke) werden mit den bereits existierenden Förderprogrammen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit nicht oder nur selten erreicht. Um langfristig und nachhaltig Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden, müssen Instrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung arbeitsmarktferner Personengruppen wirksam genutzt werden können. Aus Sicht der BAGFW fehlt es aber weiterhin an einem umfassenden Arbeitsmarktkonzept, welches eine passgenaue und langfristige Förderstrategie beinhaltet. Auch die Problematik des Ausmaßes des verfestigten Langzeitleistungsbezugs in der Grundsicherung für Arbeitsuchende bleibt im NRP weitgehend unerwähnt, obwohl sie zum Beispiel im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission zum Länderbericht Deutschland 2016 beschrieben wird.
Langzeitarbeitslose sind vom rückläufigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente besonders betroffen. Nach Angaben aus dem Eingliederungsbericht 2014 der Bundesagentur für Arbeit waren sie nur mit einem Anteil von 19 % an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt. Die BAGFW spricht sich dafür aus, die schwerpunktmäßige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Personen und Förderleistungen mit großer Arbeitsmarktnähe aufzugeben und Langzeitleistungsbeziehenden und ihren Familien deutlich mehr Förderung anzubieten.
Für einen Teil derjenigen Menschen, die trotz intensiver Förderung ohne Chance auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind, sollen über öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsangebote Möglichkeiten der sozialen Teilhabe eröffnet werden. Vor dem Hintergrund der verfestigten und hohen Langzeitarbeitslosigkeit sieht die BAGFW das im NRP aufgeführte Konzept „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ positiv. Die Verbände loben ausdrücklich das Vorhaben, ein Angebot zur sozialen Teilhabe durch Erwerbsarbeit für ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen mit öffentlich geförderter sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu unterbreiten. Das Programm kann dazu ein erster wichtiger Schritt sein. Da die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe weit über die angedachte Förderung von 20.000 Personen hinausgehen, fordert die BAGFW zusätzliche Mittel bereitzustellen und das Programm mit einer Erprobung des sog. Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zu verknüpfen.
o Soziale Teilhabe im Alter (Ziff. 147-149)
Die Altersarmut bestimmter Menschen ist bereits heute ein ernstzunehmendes Problem, das sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen wird. Immer mehr Menschen sind auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen. Frauen sind dabei deutlich mehr von Altersarmut betroffen als Männer. Trotz der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes drohen prekäre Arbeitsverhältnisse, der Ausbau des Niedriglohnsektors und unterbrochene Erwerbsbiographien das Problem der Altersarmut zu verschärfen.
o Knappheit auf Wohnungsmärkten entgegenwirken (Ziff. 150-154)
Die BAGFW begrüßt die von der Bundesregierung in die Wege geleiteten Maßnahmen zur Ankurbelung des Wohnungsbaus. Die Zahl der 2016 erteilten Baugenehmigungen ist in 2016 deutlich gestiegen[1]. Auch die Zahl der fertig gestellten Wohnungen[2] wird höher liegen als im Vorjahr. Wohnungen im unteren Preissegment sind dennoch weiterhin Mangelware. Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt weiterhin. Daher ist die bedarfsgerechte und zweckgebundene Aufstockung der Kompensationsmittel des Bundes an die Länder für den Sozialen Wohnungsbau dringend geboten und muss auch nach 2019 rechtlich ermöglicht werden.
Die Aufstockung der Fördermittel im Städtebauprogramm „Soziale Stadt“ begrüßt die BAGFW. Die Einrichtung von Quartiersmanagements in Stadtteilen erweist sich als effiziente Methode, um unterschiedliche Aufgabenbereiche auf Quartiersebene miteinander zu verzahnen, Begegnungen der Menschen untereinander zu ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Probleme verursachen weiterhin die Befristung des Quartiersmanagements und die damit verbundene fehlende Perspektive.
Bei der von der Bundesregierung 2016 vorgenommenen Wohngelderhöhung wurde versäumt, einen Dynamisierungsfaktor einzubauen, der eine regelmäßige Anpassung des Wohngelds gesetzlich normiert. Damit besteht die Gefahr, dass zahlreiche Haushalte bald wieder ins SGB II fallen werden und bei den Jobcentern Grundsicherungsleistungen beantragen müssen. Die BAGFW verweist in diesem Zusammenhang auch auf ihre Forderung der Wiedereinführung einer Heizkostenpauschale.
Berlin/Brüssel, 17.03.2017