Stellungnahme zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Anlässlich der öffentlichen Anhörung am 17.5.21 im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales nimmt die BAGFW unaufgefordert Stellung zum Entwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz.

Stellungnahme der BAGFW zum Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vom 18.03.2021

Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nehmen anlässlich der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen am 17. Mai 2021 im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages unaufgefordert Stellung zum Gesetzentwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (European Accessibility Act – EAA) in nationales Recht umsetzen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Artikel 31 Absatz 1 bis zum 28. Juni 2022 die Maßnahmen zu erlassen und zu veröffentlichen, die erforderlich sind, um den Vorgaben der Richtlinie nachzukommen.

Bewertung

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Dies schließt Maßnahmen ein, die den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich entsprechender Technologien, ermöglichen.

In diesem Sinne begrüßen die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbände den vorliegenden Gesetzentwurf. Sie unterstützen die Zielsetzung, den Zugang für Menschen mit Behinderungen zu digitalen Alltagsprodukten und Dienstleistungen zu ermöglichen bzw. zu verbessern und somit die wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken.

Die BAGFW erkennt an, dass das Gesetzesvorhaben im Vergleich zum Referentenentwurf des Barrierefreiheitsgesetzes zwei Verbesserungen erfahren hat:

  1. Die Pflicht der Wirtschaftsakteure, die Barrierefreiheit ihrer Produkte und Dienstleistungen zu beurteilen, hat künftig bei jeder Veränderung ihrer Produkte oder Dienstleistungen zu erfolgen.
  2. § 34 ermöglicht, dass Verbraucher/innen bei der Schlichtungsstelle nach § 16 BGG die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens beantragen, ebenso sind Verbandsschlichtungsverfahren vorgesehen.

Der Entwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes enthält gegenüber dem Referentenentwurf allerdings folgende Verschlechterungen:

  1. Stellt die Marktüberwachungsbehörde fest, dass Dienstleistungen nicht die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllen, fordert sie den anbietenden Wirtschaftsakteur unverzüglich auf, innerhalb einer von ihr festgesetzten angemessenen Frist geeignete Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Kommt der Dienstleistungserbringer der Aufforderung nicht nach, kann die Marktüberwachungsbehörde die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Nichtkonformität der Dienstleistung abzustellen.

    Zur Durchsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen ist hier aus Sicht der BAGFW eine Kann-Vorschrift nicht ausreichend, vielmehr ist eine Soll-Vorschrift erforderlich.
     
  2. Anstatt die Übergangsbestimmungen zu kürzen, wurden sie für den Einsatz von Selbstbedienungsterminals noch einmal um fünf Jahre auf nun 15 Jahre nach Inbetriebnahme 2025 verlängert. Dies führt in Zeiten rasanten technischen Fortschritts zu einer nicht akzeptablen weiteren Verzögerung bei der Herstellung von Barrierefreiheit und führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen in einem wichtigen Themenfeld unangemessen benachteiligt werden. 

    Die Übergangsfristen für die Dienstleistungserbringer sollten verkürzt werden.

Der Entwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes erfüllt das Mindestmaß der Vorgaben durch die EU-Richtlinie. Um mit Blick auf UN BRK die volle und gleichberechtigte Teilhabe zu erreichen, sind darüber hinaus gehende Schritte nötig. Die BAGFW bedauert, dass der Gesetzgeber nicht die Möglichkeiten nutzt, noch in dieser Legislaturperiode durch umfängliche Regelungen im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz die Barrierefreiheit wesentlich voranzubringen.

Die BAGFW fordert den Gesetzgeber auf, noch im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens durch folgende Maßnahmen für eine größere Barrierefreiheit ernsthaft Sorge zu tragen:  

  • Die BAGFW schlägt vor, Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG aufzunehmen.
  • Der Geltungsbereich der Barrierefreiheit sollte auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfassen.
  • Der Anwendungsbereich des Gesetzes sollte auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet werden.
  • Den Rechten von Verbraucher/innen, anerkannten Verbänden und qualifizierten Einrichtungen im Verwaltungsverfahren kommt durch § 32 eine besondere Rechtsstellung zu. Der vorliegende Regierungsentwurf ermächtigt bisher nur Menschen mit Hör- und Sprachbeeinträchtigungen ihre Verbraucherrechte zu nutzen. Menschen mit anderen Sinnesbeeinträchtigungen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten werden so vom Genuss ihrer Verbraucherrechte ausgeschlossen. Gemäß § 7 BGG ist die Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen eine Benachteiligung. Die BAGFW fordert daher ausdrücklich, dass die Kosten für barrierefreie Information und Kommunikation in wahrnehmbarerer Form einheitlich geregelt werden. Die Rechte auf barrierefreie Dokumente gemäß § 10 BGG, auf Leichte Sprache gemäß § 11 BGG im Verwaltungsverfahren und angemessene Vorkehrungen gemäß § 7 BGG sind gesetzlich zu normieren. Die Kosten hierfür sind ebenfalls von den Marktüberwachungsbehörden zu tragen.
  • Die Definition von Barrierefreiheit sollte vollumfänglich im Sinne des  § 4 Behindertengleichstellungsgesetz erfolgen, ohne jedwede inhaltliche Kürzungen.
  • Darüber hinaus schlägt die BAGFW vor, begleitende Investitionen in Barrierefreiheit z.B. durch ein Bundesprogramm zu fördern. Dieses sollte vor allem auf Kleinstunternehmen ausgerichtet werden, die bisher von den EAA-Verpflichtungen weitestgehend ausgenommen sind.

Hinsichtlich der detaillierten Änderungsbedarfe aus Sicht der BAGFW verweisen wir auf die weiterhin bestehenden Kritikpunkte unserer Stellungnahme vom 12. März 2021 zum Referentenentwurf des Barrierefreiheitsgesetzes.

 

Berlin, 10.05.2021

Bundesarbeitsgemeinschaft

der Freien Wohlfahrtspflege e. V.

Dr. Gerhard Timm

Geschäftsführer

 

 

Kontakt:

Dr. Sigrid Gronbach (sigrid.gronbach(at)diakonie.de)