Die BAGFW begrüßt es, dass die Charta soziale Grundrechte enthalten wird, und zwar auf der Grundlage der bekannten und im EG-Vertrag bereits erwähnten europä- ischen Rechtsinstitute. Sie unterstützt Forderungen, die die Substanz des vorhande- nen und zukünftigen europäischen Sozialschutzes verdeutlichen. Die BAGFW hat es deshalb als ihre besondere Aufgabe angesehen, sich für einen Vorschlag einzuset- zen, der den Kern des Sozialschutzes ausmacht. Dieser betrifft insbesondere den Sozialschutz zugunsten der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Menschen (siehe Anlage 1).
Das Recht auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum in allen sozialrechtlichen Rege- lungen ist nicht nur eine Forderung der deutschen Wohlfahrtsverbände für den Sozi- alschutz in Deutschland. In gleicher Weise fordern dies auch die europäischen Wohlfahrtsverbände, die im European Round Table of Charitable Social Welfare Associations (ETWelfare) zusammenarbeiten (siehe Anlage 2). Sie knüpfen damit an eine EU-Empfehlung aus dem Jahre 1992 an, Mindestzuwendungen in den Mitglied- staaten einzuführen. Hinzukommen muss das Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste mit der klaren Vorgabe, bei der Durchführung dieser Dienste besonders auf die Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen zu achten (siehe Art. 14 Europäi- sche Sozialcharta). Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Wahlfreiheit eines jeden Bürgers, welche Organisation und Art der Hilfeleistung er in Anspruch nehmen möch- te.
Die BAGFW erwartet rasche Fortschritte im europäischen Einigungsprozess. Es soll- te deshalb möglichst bald eine Charta europäischer Grundrechte verabschiedet wer- den, die in eine zukünftige europäische Verfassung integriert werden kann. Die Bürger in Europa und die sich entwickelnde europäische Zivilgesellschaft, als deren Akteure sich auch die Wohlfahrtsverbände verstehen, brauchen eine solche Charta, um sich mit dem
zusammenwachsenden Europa besser als bisher identifizieren zu können. Die welt- weit wirksamen Veränderungsprozesse werden nur unzureichend durch das Stich- wort “Globalisierung“ gekennzeichnet. Sie bewirken, dass die Bürger sich nicht nur in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht in ihren lokalen, regionalen und nationalen Bezügen wiederfinden und wiedererkennen wollen, sondern sie brauchen Europa auch als Heimat. Wir bedauern es, dass die Anhörung und der vorliegende Fragen-
katalog im Hinblick auf diesen wichtigen politischen Hintergrund zu kurz greift.
Nur wenn es gelingt, die tragenden politischen Gründe der Forderung nach einer eu- ropäischen Verfassung und insbesondere nach einer Charta europäischer Grund- rechte offen zulegen und in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion zu stellen, kann dieses Vorhaben nach Überzeugung der BAGFW Erfolg haben. Ein bloßer Be- zug auf vorhandene europäische Grundrechtskataloge - z. B. die Europäische Men- schenrechtskonvention - reicht nicht aus. Die Charta sollte daher - auch als Bestandteil der europäischen Verträge - so verfasst werden, dass sie in den weiteren prozeduralen Schritten für eine europäische Verfassung ohne ergänzende Beratun- gen und Veränderungen für verbindlich erklärt werden kann.
Vor diesem Hintergrund hat sich die BAGFW entschlossen, den Entwurf eines EUGrundrechtsartikels vorzulegen. Darin werden die wichtigsten Forderungen für einen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Europas zusammengefasst.
Die BAGFW beantwortet den Fragenkatalog wie folgt:
Block 1: Inhalt der Grundrechtscharta (GRC)
1. Welchem Vorgehen sollte der Konvent zur Erarbeitung der GRC folgen?
a. Kodifizierung der in den europäischen Verträgen enthaltenen Grundrechte
(unter Einbeziehung der Rechtsprechung des EUGH)?
b. Erarbeitung einer möglichst vollständigen GRC?
Es sollte eine GRC erarbeitet werden, die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit er- hebt, sondern sich auf die wesentlichen Grundrechte beschränkt.
2. Inwieweit müssen die Grundrechtskataloge der Verfassungen der EU- Mitgliedstaaten bei der Erarbeitung der GRC berücksichtigt werden? Wenn ja, wie kann man die nationalen Grundrechtskataloge berücksichtigen?
Sie müssen berücksichtigt werden. Dies darf aber nicht dazu führen, dass eige- ne europäische Zielsetzungen - z. B. das von der BAGFW vorgeschlagene Recht auf Bürgerdialog und Grundsicherung - mangels entsprechender Artikel in den nationalen Katalogen nicht in die GRC aufgenommen werden. Die GRC muss ein eigenständiges Grundrechtsprofil haben.
3. Inwieweit sind die Grundrechtskataloge der Beitrittskandidaten bei der Erarbei- tung der GRC heranzuziehen?
Sie sind heranzuziehen, aber nur in gleicher Weise wie die Kataloge der Mit- gliedstaaten zu berücksichtigen.
4. Inwieweit sollten sich die Formulierungen der GRC an den Formulierungen der
EMRK orientieren?
Sie sollten berücksichtigt werden, soweit sie mit den inhaltlichen Forderungen an die GRC übereinstimmen. Aber die GRC muss auch ein eigenes Profil ha- ben (siehe BAGFW-Vorschlag zur Übernahme von Art. 14 der Europäischen Sozialcharta).
5. Sollten neben subjektiven Rechten auch politische Handlungsziele der Union in die GRC übernommen werden? Würde dies zu einer Erweiterung der Zustän- digkeit der Union führen?
Politische Handlungsziele sollten nur in der Weise übernommen werden, dass sich dies in bestimmten Bürgerrechten niederschlägt (Beispiel: Der BAGFW- Vorschlag für ein Recht auf Bürgerdialog soll Anlass zu neuen rechtlichen Rahmenbedingungen für Aktivitäten der Europäischen Zivilgesellschaft geben). Dies muss nicht zur Erweiterung der Unionszuständigkeit führen (Beispiel: Der BAGFW-Vorschlag zum Recht auf Grundsicherung ist zwar an die EU- Institutionen adressiert, muss aber nach den jetzigen
EU-Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden, wobei die EU
gemäß Art. 137.2 EG-Vertrag assistiert).
6. Sollen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in der GRC berücksichtigt werden? Sehen Sie bei diesen Rechten Probleme im Bereich der Justitiabilität?
Solche Rechte sollen vorgesehen werden, wobei man sich aber im Hinblick auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und auch auf die Probleme der Justitiabili- tät auf wesentliche Rechte konzentrieren sollte. Das Problem der Justitiabilität muss sorgfältig behandelt werden, die Lösung sollte transparent sein. Jeder eu- ropäische Bürger muss eine einfache und klare Vorstellung davon gewinnen können, was die GRC für ihn wert ist. Es sollte geprüft werden, inwieweit ein in- dividuelles Klagerecht beim EUGH zu einer Verbesserung des Grundrechts- schutzes beitragen kann.
7. Halten Sie die Aufnahme von sogenannten ,,modernen Grundrechten“ in die
GRC für sinnvoll?
Unbedingt, weil den europäischen Bürgern nur auf diese Weise demonstriert werden kann, was an Europa innovativ und zukunftsfähig ist und was die EU von den Mitgliedstaaten unterscheidet (Beispiel: Der BAGFW-Vorschlag eines Rechts auf gesellschaftliche Partizipation ist ein ,,modernes“ Grundrecht).
8. Wie beurteilen sie die vom Präsidium vorgelegte Architektur der GRC? Fehlen ihr wichtige Grundrechte?
Nein, die Architektur scheint den wesentlichen Gehalt der bestehenden nationa- len Verfassungen wiederzugeben. Es fehlen aber ,,moderne“ Grundrechte und es ist noch kein eigenständiges europäisches ,,Gesicht“ der GRC zu erkennen.
9. Wie beurteilen Sie die bereits vorgelegten Artikelvorschläge des Präsidiums des
Konvents?
Siehe die Antwort zu Frage 8.
10. Wie sollen die Grundrechte in der Charta formuliert werden?
a) als Jedermann-Rechte/Menschenrechte b) als Rechte der EU-Bürger
c) in Abhängigkeit des jeweiligen Rechts
Sie sollten zum jetzigen Zeitpunkt der Diskussion einer europäischen Verfas- sung als Menschenrechte formuliert werden bzw. darauf beschränkt werden. Nur so gewinnt die Europäische Union als eigenständige staatsrechtliche Ge- meinschaft das notwendige Profil.
Block II: Geltungsbereich der GRC
Zu diesen Fragen vornehmlich verfassungsrechtlicher Detailprobleme nimmt die
BAGFW keine Stellung.