Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland zusammenarbeitenden sechs Spitzenverbände (Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) treten für die Würde und das Recht auf Leben des Menschen ein.
Die Bedeutung genetischer Tests und der Umfang daraus gewonnener Daten werden stark zunehmen. Trotzdem können Regelungen zu Gentests derzeit zum großen Teil nur aufgrund von Prognosen und Einschätzungen erfolgen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstreichen, dass notwendige gesetzliche Regelungen der Gendiagnostik vom Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung ausgehen und dem Ziel verpflichtet sein müssen, einen effektiven Schutz gegen Diskriminierung und Stigmatisierung aufgrund genetischer Merkmale zu gewährleisten.
1. Zur Problematik
Da jeder Mensch genetisch einzigartig ist, stehen genetische Daten - alle Informationen über die genetische Ausstattung - in einem besonderen Verhältnis zu seiner Persönlichkeit und Identität. Um Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu verhindern müssen diese Daten in besonderer Weise geschützt werden.
Genetische Daten sind deshalb besonders sensibel, weil ihr Informationsgehalt dem Träger oft selbst nicht bekannt ist. Die Entscheidung, genetische Daten zu offenbaren, bedeutet deshalb oft, selbst nicht zu wissen, was offenbar wird. Aus dem zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung gehörenden Recht auf Nichtwissen folgt, dass für Gentests eine strikte Freiwilligkeit erforderlich ist.
Prädiktive Gentests können zu spezifischen Rechtskonflikten führen, weil sie auch Aussagen über die genetische Ausstattungen leiblicher Verwandter ermöglichen. Der Konflikt von Wissen und Nichtwissen erweitert sich auf verschiedene Personen bzw. eine Patientengemeinschaft. Die Wahrnehmung des Rechtes auf Nichtwissen und Wissen mitbetroffener Verwandten liegt hier praktisch in der Entscheidungsbefugnis des Arztes und des Patienten.
Grundlegend für eine Regelung von Gentests ist die Beantwortung der Frage, inwieweit es sich bei den genetischen Informationen um besondere Daten handelt, die besonders behandelt werden müssen. Informationen, die durch prädiktive Gentests gewonnen werden, besitzen im Unterschied zu anderen Gesundheitsinformationen eine besondere Qualität. Einerseits prägt eine genetische Disposition das ganze Leben, andererseits besteht zwischen genetischen Potentialen und aktuell manifesten körperlichen Konstitutionen eine erhebliche Differenz. Bis auf Ausnahmen erlauben genetische Untersuchungen lediglich Aussagen über statistische Krankheitswahrscheinlichkeiten. Prädiktive Gentests sind mit sehr großen Unsicherheiten verbunden.
Aufgrund dieser Besonderheiten haben genetische Daten eine hohe Ambivalenz. Den Chancen medizinischer und gesundheitlicher Hilfen stehen Gefährdung des Persönlichkeitsrechtes, des Freiwilligkeitsprinzips und die Gefahr der Diskriminierung gegenüber. Zum Persönlichkeitsrecht gehört sowohl, dass die Kenntnis genetischer Daten niemanden aufgezwungen werden darf, als auch, dass die Selbstbestimmung die Legitimationsbasis für genetische Untersuchungen (z.B. bei Schwangerschaft, Partnerwahl, Familienplanung) bildet. Deshalb sind sowohl ein Informationsrecht als auch ein Informationsabwehrrecht gesetzlich abzusichern.
Vor diesem Hintergrund muss ein Gendiagnostik-Gesetz von dem Grundsatz ausgehen, dass es zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung gehört, selbst zu entscheiden, was, wem, zu welchem Zweck und unter welchen Umständen genetische Daten offenbart werden soll.
In einer gesetzlichen Regelung müssen neben grundgesetzlich garantierten Berufs- und Forschungsfreiheit insbesondere der Persönlichkeits- und Patientenschutz berücksichtigt werden.
2. Positionen
Ausgehend von der Orientierung an der Würde jedes einzelnen Menschen und vor dem Hintergrund der dargestellten Problematik fordern die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege eine gesetzliche Regelung für die Gendiagnostik und den Umgang mit genetischen Daten, die sich an den Prinzipien der Freiwilligkeit, des Diskriminierungsverbotes und des Datenschutzes, das Erfordernis der umfassenden Aufklärung und Beratung sowie den Arztvorbehalt orientiert.
2.1 Genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken
Das Recht auf Wissen sowie das Recht auf Nichtwissen sind zu gewährleisten. Jede genetische Diagnostik, mit Ausnahme im Strafverfahren darf erst erfolgen, wenn die betroffene Person über sie aufgeklärt worden ist und freiwillig eingewilligt hat. Dabei bedingen sich Aufklärung und Freiwilligkeit gegenseitig. Deshalb sind verbindliche Standards für die medizinische Aufklärung notwendig. Humangenetische und psychosoziale Beratung müssten vor und nach einem Test angeboten und dabei die Rechte aller Betroffenen berücksichtigt werden. In der humangenetischen Beratung werden in erster Linie über „genetische Risiken“, genetisch bedingte Krankheiten und Vererbungswahrscheinlichkeiten informiert. In der psychosozialen Beratung stehen der individuelle Umgang mit „genetischen Risiken“ und die Vermeidung bzw. die Bewältigung persönlicher Belastungen im Mittelpunkt.
Diese Forderung, dass genetische Diagnostik durch ein humangenetisches und psychosoziales Aufklärungs- bzw. Beratungsangebot begleitet werden muss, gilt insbesondere beim Einsatz von genetischer Diagnostik im Rahmen der Pränataldiagnostik. Das psychosoziale Beratungsangebot vor, während und nach Pränataldiagnostik ist sicher zu stellen. Eine Hinweispflicht für Ärzte auf den Rechtsanspruch nach § 2 SchKG auf psychosoziale Beratung muss rechtlich verankert werden.
Durch einen Arztvorbehalt ist sicherzustellen, dass genetische Tests nicht frei zur allgemeinen Verfügung stehen, sondern nur im Zusammenhang eines Arzt-Patient-Verhältnisses und bei Vorliegen einer freiwilligen und informierten Einwilligung des Patienten und bei entsprechender ärztlichen Begründung (Indikation) vorgenommen werden dürfen. Ärzte müssen dafür eine sie dazu befähigende angemessene Ausbildung nachweisen. Dieser Arztvorbehalt ist ein Element der notwendigen Qualitätssicherung genetischer Tests und des Umgangs mit genetischen Daten.
2.2 Genetische Untersuchungen im Bereich des Arbeitsrechts und der Versicherung
Das Gendiagnostikgesetz muss Ausdruck eines grundsätzlichen Diskriminierungsverbots auf Grund der genetischen Konstitution sein.
Die Forderung, dass niemand wegen seiner genetischen Eigenschaften diskriminiert werden darf, muss die Forderung einschließen, dass niemand wegen der Vornahme oder der Nichtvornahme einer genetischen Diagnostik oder der Vorlage oder Nichtvorlage bekannter genetischer Daten benachteiligt werden darf. Diese Forderung entspricht Art. 11 des „Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin“ des Europarates.[1] Auch die Charta der Grundrechte der EU aus dem Jahr 2000 verbietet in Art. 21 die Diskriminierung aufgrund genetischer Merkmale.
Aus diesem Grundsatz ergibt sich ein umfassendes Verbot prädiktiver Gentests als verpflichtende Einstellungsuntersuchung im Arbeitsleben oder beim Abschluss von Versicherungen. Ebenso darf keine Weitergabe von Ergebnissen prädiktiver Gentests an Versicherungen und im Rahmen von Arbeitsschutzuntersuchungen an Arbeitgeber erfolgen.
Nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung sind vor der Einstellung nur solche Erkrankungen für den Bewerber mitteilungspflichtig, die die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit auf Dauer oder in periodisch wiederkehrenden Abständen einschränken oder von denen eine Gefährdung Dritter ausgehen kann. Das bedeutet, dass prädiktive Gentests, die keine Aussagen über manifeste Krankheiten machen, grundsätzlich unzulässig sind.
2.3 Genetische Untersuchungen zu Zwecken wissenschaftlicher Forschung
Eine genetische Diagnostik zu Zwecken wissenschaftlicher Forschung darf erst erfolgen, nachdem die betroffene Person entschieden hat, ob und in welchem Umfang personenbezogene genetische Proben bzw. Daten gewonnen und verwendet werden dürfen. Eine Einwilligung bedarf der Schriftform und kann von der betroffenen Person jederzeit widerrufen werden. Die Erteilung der Einwilligung setzt eine umfassende Aufklärung der betroffenen Person über mögliche Verwendungen der personenbezogenen genetischen Proben bzw. Daten voraus. Um Interessenkonflikte zu verhindern bzw. offen zu leben, gehört es zur Aufklärung von Probandinnen und Probanden, dass sie über die Finanzierung von Forschungsvorhaben, die Verwertung der Ergebnisse, geplante Veröffentlichungen, etc. informiert werden.
Einwilligungen dürfen nicht in Form von „General“- oder „Blanko“-Einwilligungen erfolgen. Dies widerspricht dem Konzept des „informed consent“, weil eine wirkungsvolle Einwilligung zu einem Forschungsvorhaben die Informiertheit der betroffenen Person voraussetzt.
Personenbezogene genetische Proben und Daten sind soweit wie möglich zu anonymisieren. Sollte eine Anonymisierung aufgrund des Forschungszwecks nicht möglich sein, sind die Proben und Daten zu pseudonomisieren. Die Zulässigkeit einer Re-Identifikation ist abhängig von der Einwilligung der betroffenen Person.
Bei Minderjährigen und Nichteinwilligungsfähigen sind genetische Untersuchungen grundsätzlich nur zum unmittelbaren Nutzen der betroffenen Person zulässig. Ein solcher Nutzen liegt vor, wenn der genetische Test eine Präventions- oder Therapiemöglichkeit eröffnet. Der Wunsch von Eltern, Kenntnisse über Krankheitsveranlagungen des Kindes zu erhalten, rechtfertigt nicht einen Gentest. Hiermit würde das Recht des Kindes auf Nichtwissen unterlaufen.
Die Nutzung genetischer Daten muss strikt auf den Forschungszweck eingeschränkt werden. Die Weitergabe von Daten und ihre Nutzung für anderweitige Zwecke ist durch ein gesetzlich verankertes „Forschungsgeheimnis“ - analog zur gesetzlichen Schweigepflicht des Arztes - einzuschränken. Eine anderweitige Nutzung von Forschungsdaten – etwa durch die Polizei – muss ausgeschlossen sein.
3. Zum Gesetzgebungsverfahren
Spezielle gesetzliche Regelungen zum Schutz der Patientenrechte existieren hierzulande bisher nicht. Der biomedizinische Fortschritt verschärft die rechtlichen Unsicherheiten und den Regelungsbedarf.
Die Interpretation und die Auswirkungen prädiktiver genetischer Daten können tief in die Selbstbestimmung von Personen eingreifen. Es ist eine Aufgabe der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, Personen vor genetischer Diskriminierung und Stigmatisierung in allen Bereichen der Gesellschaft zu schützen.
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen alle Bemühungen, Gendiagnostik und den Umgang mit genetischen Daten in einer der Würde des Menschen entsprechenden Weise gesetzlich zu regeln.
[1] Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die
Anwendung von Biologie und Medizin – Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin
des Europarates vom 4. April 1997. Die Konvention wurde von der Bundesregierung bisher nicht gezeichnet.