Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Stadler,
sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Einladung und herzlichen Glückwunsch zum 90-jährigen Jubiläum der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege!
2014 ist ein Jahr der Jubiläen.
Vor wenigen Wochen haben wir 25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention gefeiert.
Die Arbeitsgemeinschaft der Familienorganisationen ist 60 geworden.
Nicht zu vergessen das große Jubiläum, das mich persönlich besonders berührt: 25 Jahre Fall der Mauer.
Die BAGFW ist nicht nur älter als ich - und älter als die allermeisten hier im Raum -; ich habe auch einen großen Teil ihrer Geschichte nicht miterlebt, weil ich in der DDR groß geworden bin.
Insofern war es für mich besonders interessant, anlässlich des Jubiläums in die Geschichte hineinzuschauen.
Die BAGFW ist im Grunde ein Dachverband von Spitzenverbänden, der Interessen auf Bundesebene bündelt, und wenn ich in Schwerin bei der AWO einen PEKIP-Kurs besuche, werde ich nicht erfahren, dass es die BAGFW überhaupt gibt.
Aber der Impuls, Wohlfahrtsverbände zu gründen, ging von ganz konkreten Ereignissen aus.
Sie kennen wahrscheinlich alle die Geschichte von Henri Dunant und der Schlacht von Solferino mit ihren Toten und Schwerverletzten. Das Entsetzen darüber gab den Anstoß zur Gründung des Roten Kreuzes.
Die Gründung der AWO hat mit der Not nach dem Ersten Weltkrieg zu tun. An ihrem Beginn stand Selbsthilfe mit Mittagstischen, Nähstuben und Beratungsstellen für die Kriegsgeschädigten.
Die Diakonie organisierte sich unter dem Eindruck der Armut und Not in Folge der industriellen Revolution.
Der Kern von Wohlfahrtspflege ist also etwas ganz Konkretes.
Von Menschen für Menschen, so beschreiben Sie es in Ihrer Jubiläumsbroschüre.
Und zwar nicht irgendwer irgendwas für irgendwen.
Sondern ich für dich das, was du brauchst.
Dieser Kern, diese Grundhaltung macht die Wohlfahrtspflege zu einem sicheren Anker für alle Menschen, die in irgendeiner Form Hilfe brauchen.
Alles, was die BAGFW fordert und anstößt, geht letztlich auf diese Grundhaltung zurück: Ich für dich das, was du brauchst.
Menschen, die Hilfe brauchen, können Menschen in Krisen sein. Wirtschaftskrisen, aber auch ganz persönliche Lebenskrisen. Drogensüchtige, Wohnungslose. Ich habe kürzlich Straßenkinder getroffen, die mit einem Kongress auf ihr Leben aufmerksam gemacht haben.
Aber es ist weder Wirtschafts- noch Lebenskrise nötig, damit Menschen einen stabilen Anker brauchen.
Eltern bringen ihre Kinder in die Kindertagesstätten der Wohlfahrtsverbände, weil sie dort gut gefördert werden.
Alte Menschen werden besucht, umsorgt und gepflegt.
2,5 Millionen Ehrenamtliche finden in den Wohlfahrtsverbänden einen Ort für ihr Engagement.
Ich für dich das, was du brauchst - das ist eine Formel für alle Generationen und alle Lebenssituationen.
Es ist auch eine Formel für eine solidarische Gesellschaft.
Eine Zeitlang sah es so aus, als sei ein Gesellschaftsmodell auf dem Vormarsch, das die Menschen als Egoisten sieht, die nichts als ihren eigenen Vorteil im Auge haben. Eine solche Gesellschaft organisiert ihre Wohlfahrtspflege nach der Formel:
Ich für dich das, was du bezahlen kannst.
Ich bin froh, dass dieses Gesellschaftsbild wieder ein bisschen zurückgedrängt wird. Denn in einer Gesellschaft von Egoisten möchte ich nicht leben. Ich will eine solidarische Gesellschaft, eine gerechte Gesellschaft,
und dazu gehört unbedingt die Wohlfahrtspflege, wie sie sich seit 90 Jahren erst in der „Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege“, dann in der BAGFW organisiert hat.
Diese Solidarität ist - ich habe es gesagt - etwas sehr Konkretes: von Menschen für Menschen. Aber Solidarität ist gleichzeitig eine staatliche Aufgabe. Deutschland ist ein Sozialstaat, sagt das Grundgesetz. Der Staat trägt Verantwortung für die Daseinsvorsorge. Es ist staatliche Aufgabe, soziale Unterschiede auszugleichen, Teilhabe zu ermöglichen und den Menschen soziale Sicherheit zu gewährleisten, die dazu mit eigenen Mitteln nicht in der Lage sind. Der Staat ist dafür verantwortlich, dass soziale Dienstleistungen in verlässlichen Strukturen erbracht werden.
Ich für dich das, was du brauchst
- diese Haltung braucht den Rahmen eines Sozialstaats, der Werte und Ziele vorgibt.
Was nicht heißt, dass der Staat alles selbst machen sollte. Unser Sozialstaat folgt neben den Prinzipien der Solidarität und der Gerechtigkeit auch dem Prinzip der Freiheit. Freie Wohlfahrtspflege wird nicht von oben verordnet, sondern vor Ort von freien Trägern geleistet. Diese Freiheit ist nötig, damit Wohlfahrtspflege nah am Menschen bleibt. Das Subsidiaritätsprinzip, das unseren Sozialstaat trägt, sorgt dafür, dass die Angebote wirklich den konkreten Bedarf und die Vielfalt der Lebensverhältnisse treffen.
Ich für dich das, was du in deiner Situation brauchst.
Für mich sind die Freiheit der freien Wohlfahrtspflege und auch ihre Gemeinwohlorientierung echte Qualitätsmerkmale. Deshalb bin ich auch zurückhaltend, wenn es darum geht, sozialstaatliche Aufgaben in privatwirtschaftliche Hände zu geben.
Berechtigt ist die Frage, wie die Mittel im Sozialsystem effizient eingesetzt werden können. Wohlfahrtsverbände und soziale Einrichtungen sind besser geworden, seit sie nicht nur ihre soziale Arbeit professionalisiert haben, sondern auch Ökonomie und Betriebswirtschaft besser anwenden.
Die gemeinnützigen freien Träger investieren ihre Gewinne zurück ins Soziale: in Fort- und Weiterbildung, in Aktivitäten an der Basis und in die Begleitung der Ehrenamtlichen. Ein solches Modell unterstütze ich.
Auch das bürgerschaftliche Engagement ist für mich ein Qualitätsmerkmal der freien Wohlfahrtspflege. Das Ehrenamt steht am Anfang der Wohlfahrtsverbände als Hilfe zur Selbsthilfe, als christliche Bereitschaft zu Diakonie und Caritas oder als Solidarität in der Arbeiterbewegung. Ehrenamtliche bringen auch heute eine besondere Qualität in die freie Wohlfahrtspflege ein: nicht als Lückenbüßer, sondern als Partner hauptamtlicher Fachkräfte.
Engagement ist darüber hinaus Teilhabe und Selbstbestimmung. Wer sich engagiert, gestaltet mit, was in unserer Gesellschaft passiert, redet mit, will gehört werden. Auch das gehört zur freien Wohlfahrtspflege.
So sind die Wohlfahrtsverbände nicht nur Hilfsorganisationen, sondern auch Anwälte des Sozialen. Sie setzen sich politisch für Menschen ein, die Unterstützung brauchen, sie vertreten die Interessen derjenigen, die sonst keine Lobby haben. Und so fügt sich aus diesen verschiedenen Qualitätsmerkmalen das Bild einer freien Wohlfahrtspflege in Deutschland zusammen, die in Europa einzigartig ist. Ich bin davon überzeugt, dass die freie Wohlfahrtspflege mit ihrer Trägervielfalt, ihrer Gemeinnützigkeit und ihrem ehrenamtlichen Einsatz beispielgebend sein kann für ein soziales Europa. Aber Sie wissen, dass wir dieses Modell verteidigen müssen gegen diejenigen, die in Europa nur Markt und Wettbewerbsfreiheit sehen. Im Eintreten für ein soziales Europa stehe ich an der Seite der freien Wohlfahrtsverbände in Deutschland.
Wenn man einem Menschen zum 90. Geburtstag gratuliert, schwingt oft ein bisschen Sorge mit: „Hoffentlich ist es nicht der letzte Geburtstag, den wir zusammen feiern.“ Oder, heute häufiger als früher, Respekt und Bewunderung: „Mensch, du bist mit 90 ja noch total rüstig und aktiv.“
Bei Organisationen ist es ebenfalls alles andere als selbstverständlich, dass sie ein so hohes Alter erreichen. Das Kompliment: „Sie sind mit 90 noch rüstig und aktiv“ kann ich, ohne rot zu werden, auch der BAGFW machen.
Die Freie Wohlfahrtspflege hat in den 90 Jahren seit Gründung der Deutschen Liga im Jahr 1924 viele gesellschaftliche Entwicklungen aufgegriffen und sich dadurch selbst weiterentwickelt.
Die Professionalisierung der sozialen Arbeit ist da zu nennen, den Einfluss der Ökonomie - im Guten und im Schlechten - habe ich schon angesprochen.
Auch die Entwicklungszusammenarbeit hat die freie Wohlfahrtspflege verändert und ihr eine stärker internationale Perspektive gegeben.
Heute stehen die Wohlfahrtsverbände vor neuen Aufgaben: zum Beispiel vor der Herausforderung, die Hilfen für Menschen mit Behinderungen zu inklusiven Angeboten weiterzuentwickeln.
Es ist normal, verschieden zu sein.
Das ist ein Satz, den wir alle unterstützen. Aber er muss in der Praxis der Wohlfahrtspflege mit Leben erfüllt werden, und das klappt nicht immer beim ersten Versuch. Auch die zunehmende Zahl von Flüchtlingen kommt bei den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege an. Die Wohlfahrtsverbände bieten den Menschen ein Willkommen, so gut es geht, organisieren Unterkünfte, Unterstützung und Beratung.
Die freie Wohlfahrtspflege in Deutschland ist in der Lage, auf neue Bedarfe immer wieder neue Antworten zu finden. Weil sie nah an den Menschen ist, weil sie über die Kompetenz verfügt, und weil sie aufgrund ihrer Werte diese Antworten finden will. Die BAGFW und ihre Mitgliedsorganisationen haben sich in 90 Jahren weiterentwickelt, sie haben Erfahrungen gemacht und gelernt. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf neue Fragen auch weiterhin Antworten finden, die den Menschen gut tun.
Das Bundesfamilienministerium arbeitet sehr gern mit der BAGFW zusammen. Wir sind Partner in vielen wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen, und auch auf europäischer Ebene steht das Bundesfamilienministerium an der Seite der freien Wohlfahrtspflege. Dafür stehe ich als Ministerin.
Ich möchte aber auch den PEKIP-Kurs nicht missen, den ich als junge Mutter bei der AWO gemacht habe. Denn Wohlfahrtspflege ist letztlich immer ganz praktisch.
Das ist auch das, was die Medien interessiert: Personen, Geschichten, Gefühle, Konkretes. Deshalb passt es, finde ich, ganz hervorragend, dass Sie den Deutschen Sozialpreis im Rahmen dieser Jubiläumsveranstaltung vergeben. Gutem Journalismus gelingt es, etwas Allgemeines im Besonderen anschaulich zu machen.
Wenn ich der BAGFW zu ihrem 90. Geburtstag etwas mit auf den Weg geben möchte, dann ist es der Wunsch, dass ihr etwas Ähnliches gelingt:
Ich wünsche mir, dass die BAGFW hier und überall immer wieder deutlich macht, was freie Wohlfahrtspflege in diesem Land ganz konkret leistet und bedeutet.
· Ein stabiler Anker für Menschen, die Hilfe brauchen.
· Vielfältigste Angebote, die den Bedarf der Menschen treffen:
Menschen aller Lebensalter, in all ihrer Vielfalt.
· Eine Garantie für Solidarität in unserer Gesellschaft.
Handeln von Menschen für Menschen:
Ich für dich das, was du ganz konkret brauchst.
Alles Gute für die Zukunft der BAGFW!