"Du bist, was du glotzt", schreibt Walter Wüllenweber in seinem Stern-Artikel, für den heute der Deutsche Sozialpreis - in der Kategorie Print - vergeben wird. Seine Sozialreportage kommt zu dem Ergebnis: Unterschichtler verbringen ihre Freizeit, weit mehr als andere, "mit Glotzen": "Glotzen" - wie Wüllenweber es nennt - bedeutet: Talk, Trash, Gewalt, Comic, Porno. Der unreflektierte Fernsehkonsum führe dazu, dass Kinder bereits von der "Sendung mit der Maus" überfordert seien: "Noch nicht in der Schule und schon abgehängt." Schon bei den Jüngsten beißt die Fernsehmaus den Faden ab. - Ein ernüchterndes Fazit für einen Fernseh-Intendanten, der beim Deutschen Sozialpreis die Gastrede halten soll.
Doch auch beim Lesen darf man nicht glotzen, sondern muß genau hinschauen. Wüllenweber schreibt wörtlich über die Fernsehkinder: "Noch nicht in der Schule und schon abgehängt, selbst beim Glotzen." Daraus folgt: Es muß auch andere Kinder geben, die beim Fernsehen nicht abgehängt werden, die - siehe 3sat - "anders fernsehen" und damit auch anderes fernsehen. Und wenn wir die Botschaft der heutigen Veranstaltung richtig lesen, können wir weiter folgern: Wäre Fernsehen grundsätzlich ein Unterschichtenmedium der a-sozialen Art, so gäbe es keinen Sozialpreis in dieser Kategorie. Für die Kategorien Hörfunk und Print stellt sich die Frage weniger, da die beiden anderen Medien nicht der Verführbarkeit des Auges anheimfallen, sondern eine andere Form geistiger Aufmerksamkeit, Anstrengung und auch Bildung voraussetzen.
Ich habe zwar nicht exakt nachgezählt, aber eines der häufigsten Worte in Wüllenwebers Artikel ist das Wort "Bildung". Es steht im Kontext von Schule, Erziehung, Lernen, Lesen und sonstigen Formen geistiger Betätigung. So ist Bildung Wüllenwebers Schlüssel zum Ausgang, zum Ausstieg aus der Misere. Die gängige Formel "Arme sind dumm" kehrt er um in die neue Kausalität: "Dummheit macht arm." Armut im Geiste führt auch zur Armut in der Kasse.
In diesem Zusammenhang fällt eine kulturgeschichtliche Parallele auf. Da sie so alt ist wie unsere abendländische Kultur, kann sie etwas Gültiges über die Grundstruktur des Sozialen sagen. So stammen von den alten Griechen zwei aufschlußreiche Definitionen des Menschen:
Die erste lautet: Der Mensch ist ein politisches Wesen. Gemeint ist: Der Mensch muß sich auch öffentlich für sein Gemeinwesen engagieren und kann sich nicht einfach als Privatmann - griechisch: "idiót?s" - zurückziehen. Entsprechend beklagt Wüllenweber, daß unsere heutige Unterschicht "für die Demokratie verloren" sei: Sie beteilige sich nicht einmal als Wähler am öffentlichen Leben, sondern lebe umgekehrt auf Kosten der Öffentlichkeit.
Die zweite Definition lautet: Der Mensch ist, im Unterschied zum Tier, ein Verstandeswesen. Hinter dem "Verstand" verbirgt sich der berühmte "Logos", der nicht nur "Geist", sondern auch "Wort" und damit "Rede" bedeutet, also auch die politische Rede auf dem antiken Forum, wo das Volk diskutiert und debattiert hat. Wer dort nicht mitreden kann, kann auch nicht mithalten - wird ebenfalls abgehängt.
Das für uns Entscheidende liegt nun darin, daß seit der Geburt der Demokratie aus dem Geiste der Griechen beide Definitionen miteinander zusammenhängen: Politik und 'Logik' gehören zusammen. Oder wie die Römer es ausdrücken: Der Mensch ist sowohl ein "animal sociale" als auch gleichzeitig ein "animal rationale". Kurz: Der Organismus eines Gemeinwesens braucht einen Kopf.
Was aber hat dies mit dem Fernsehen zu tun - für das ich hier ausschließlich sprechen kann? Fernsehen gilt seinem ursprünglichen Wesen nach als Medium der sozialen Kommunikation. Allerdings soll es Kritiker geben, die es als Medium der Volksverdummung ebenso voreilig wie pauschal abkanzeln. Wo diese beiden Definitionen des Fernsehens auseinanderlaufen, läuft in unserem öffentlichen Leben etwas schief. Wo Fernsehen die Gesellschaft in eine Ober- und Unterschicht spaltet und eine Bildungskluft gräbt, wird es kontraproduktiv. Wo es aber als heutige Variante des antiken Forums fungiert und quasi zu einem elektronischen Marktplatz, zu einem modernen Meinungs- und Kommunikationsforum wird, rückt es ins Zentrum einer fortschrittlichen Mediendemokratie. Fernsehen auf dieser Höhe seiner Möglichkeiten ist ein Gesellschaftsforum, kein Heimkino: Es dient dem Gemeinschaftsinteresse, nicht dem Privatvergnügen, hilft der Verbindung des Ganzen, nicht der Zerstreuung des Einzelnen, das heißt: Es fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wer, wenn nicht das öffentlich-rechtliche Fernsehen, kann dazu beitragen, diesen Zusammenhalt zu stiften, zu wahren und zu fördern? Als "Rundfunk für alle" hat es den Auftrag, eine zunehmend plurale, daher inhomogene, ja disparate Gesellschaft zu integrieren, statt weiter zu separieren. Von der Gesellschaft finanziert, hat es für die Gesamtgesellschaft da zu sein. Es geht also - wie immer - um's Ganze. Dies freilich ist ein hehres Ziel und scheint ein frommer Wunsch: Wie wird man "allen" gerecht? Was nicht einmal bei Finanzen gelingt, wie soll das bei Programmen gelingen? Welchen Gutverdienenden interessiert der Selbstversuch "Ein Mann auf Hartz IV" von Lutz Oehmichen und Rolf Kunz? Welchen Gesunden interessiert das "Protokoll der Hilflosigkeit" zum Drogenthema "Süchtig" von Sabine Braun und Jens Hamann? Wozu also der mediale Aufwand? Die Antwort ist einfach, die Umsetzung schwer: Was nur wenige interessiert, soll doch jedermanns Interesse wecken.
Interesse weckt man wiederum nach einem alten Grundsatz: "Tua res agitur". "Deine Sache wird be- und verhandelt." Das gezeigte Problem ist dein Problem. Es geht um dich. Das Zitat meint wörtlich: "Es geht um deine Sache, wenn des Nachbarn Wand brennt." Des Nachbarn Wand ist zugleich deine eigene Wand. Wenn es bei ihm brennt, brennt es im Nu auch bei dir. Fernsehen in dieser Situation ist keine Feuerwehr, sondern ausnahmsweise ein Pyrotechniker: Es muß dafür sorgen, daß der Funken überspringt. Was den Menschen auf dem Bildschirm geschieht, kann auch dem Zuschauer vor dem Bildschirm geschehen. Alsdann ist "deine Sache" gerade nicht deine Privatsache, sondern jene "öffentliche Sache", die dich etwas angeht: die "res publica", der Staat, der alle etwas angeht. Der Einzelfall muß also repräsentativ für andere Fälle sein. Der Einzelfall hängt mit anderen Fällen zusammen, weil die Gesellschaft in ihren Gliedern und Organen zusammenhängt. Sie ist ein einziger großer Zusammenhang, eben ein Organismus.
Lassen wir die alten Römer ein letztes Mal zu Wort kommen: Sie drücken den gesellschaftlichen Zusammenhang durch den Begriff "societas" aus. Er bezeichnet eine Gemeinsamkeit von der Art, wie ein "Sozius" als Beifahrer auf dem Motorrad oder als Teilhaber in einer Kanzlei mit seinem Partner zusammenhängt oder zusammenarbeitet. Das Wort ist abgeleitet von lateinisch "sequi", meint also eine "Sequenz", ein "Folgen": ein Mitfahren auf dem Rücksitz, ein Mitgehen auf einem Berufsweg, auf einem gemeinsamen Gang hinter oder mit jemandem, der vorangeht oder das gleiche Ziel verfolgt. Kurzum: Wenn uns etwas angeht, müssen wir mitgehen.
Wohin aber gehen unsere Gedanken, wenn wir im Fernsehsessel sitzen? Sitzen wir bei einer Benefizsendung am Telefonhörer und spenden mit? Oder sitzen wir an der Fernbedienung und zappen uns die Probleme vom Hals? Wann springt der Funke über? Wann folgen wir dem Gesehenen? Auch unser deutsches Wort "sehen" kommt von "sequi", "folgen". Es meint: "etwas mit den Augen verfolgen". Wenn Sehen kein Glotzen ist, kann es also verfolgen und verbinden.
Fernsehen kann also grundsätzlich unser Schicksal mit dem der übrigen Gesellschaft verbinden. Schafft es diese Verbindung aber auch in einer Zeit, da der Sozialstaat massiv bröckelt? Teilt sich die deutsche Gesellschaft derzeit nicht ein weiteres Mal? Diesmal nicht politisch, sondern sozial? Teilen wir uns in zwei Schichten aus Arm und Reich, aus Klug und Dumm? Geht die Sozialschere immer weiter auseinander? Zerschneidet sie das Tischtuch zwischen Verdienenden und Bedürftigen? Sitzen wir überhaupt noch am gleichen Tisch? Wieviel Gemeinsamkeit, wieviel Sozialverhalten ist noch möglich in einer entfesselten Marktwirtschaft, in einem globalisierten Wettbewerb? Wie begleiten die Medien den sozialen Wandel? Wie begleiten sie den gesellschaftlichen Wandel in Zeiten, da sie sich technisch in der "Digitalen Revolution" selbst von Grund auf wandeln? Was leisten die Medien noch für den sozialen Zusammenhalt, da sie inzwischen technisch immer individueller genutzt werden können.
Trotz steigender Herausforderungen gilt noch einmal, ja um so mehr: Wer, wenn nicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk, ist mit seinem Vielfaltsangebot in der Lage, die Komplexität und Kompliziertheit der neuen sozialen Wirklichkeiten zu thematisieren und diskutieren? Wer sonst könnte die akuten Themen und Probleme von Arbeit, Alter und Gesundheit in ihrer demographischen Brisanz ebenso sachlich wie kritisch wie kontinuierlich begleiten? Wer sonst würde über die dazu erforderliche Bandbreite der Genres und Formate, der publizistischen Argumentationsformen und journalistischen Handschriften verfügen, wie wir sie in unserer Selbstverpflichtung alle zwei Jahre darstellen und Tag für Tag umsetzen? Die angestrebten Qualitätsprädikate solcher Umsetzung lauten dabei: in der Sache objektiv, kompetent und transparent; in der Haltung unaufgeregt und unspektakulär, fair und ausgewogen, seriös, nicht tendenziös; in der Darstellung zeitgemäß, realitätsnah und zuschauergerecht; in der Botschaft aufklärend, informierend und orientierend; in der Perspektive anregend, ermutigend und möglichst auch zielführend.
Diese Programmziele sind, nach dem Leitprinzip der Kultur und Kultiviertheit, unser Anspruch und Ansporn. Inwieweit wir damit auch den Zuschauer ansprechen, anstecken und anspornen, liegt nicht alleine in unserer Hand. Fernsehen kann noch so motiviert und engagiert sein, es kann dennoch keine soziale Not eigenhändig und eigenständig beheben. Sabine Brauns Langzeitdokumentation über 14 Jahre - in Worten: "vierzehn" - konnte die drogensüchtige Tanja nicht retten. Dennoch: Sie konnte immerhin ein Bewußtsein für eine Not schaffen, die kein Einzelschicksal ist. Im Zuge unserer gesellschaftlichen Veränderungen werden solche Nöte zahlreicher und schwerer. Öffentlich-rechtliches Fernsehen hat den sozialen Wandel zu begleiten und den entsprechenden Bewußtseinswandel zu befördern. Bewußtsein ist der erste Schritt zum Bereitsein für soziales Handeln.
Je mehr daher der Sozialstaat schrumpft, desto mehr muß das soziale Engagement der Medien wachsen. Darin liegt der öffentlich-rechtliche Mehrwert, der "public value" von ARD und ZDF. Er ist im digitalen Medienwettbewerb mehr denn je gefragt. Er liegt in der primären Funktion als Informations- und Kulturmedium, das Bilder und Bildung verbindet. Wenn Lutz Oehmichen als Protagonist des Hörspielkinos sagt: "Man braucht beim Hören auch etwas für das Auge", so gilt auch umgekehrt: Man braucht beim Sehen auch etwas für das Ohr - und für den Kopf. Kopfarbeit aber kann gar nicht früh genug beginnen und sollte eigentlich niemals enden. Dies gilt für die ganze Palette von Kinderprogrammen wie "Die Sendung mit der Maus" bis hin zu Themen wie "Melkkuh Sozialstaat" in politischen Gesprächsrunden mit Sabine Christiansen oder Maybrit Illner; es gilt für die Kindernachrichten "logo" ebenso wie für die großen Nachrichten, Magazine, Reportagen, Dokumentationen und für die Wissenssendungen ohnedies, von "Willi wills wissen", über "W wie Wissen" bis zu "Abenteuer Wissen".
Fernsehen dieser Prägung und Ausrichtung auf Information und Kultur ist längst kein Unterschichtenmedium mehr. Es ist mehr als ein Bildmedium und daher auch mehr als ein Augenmedium. Unsere Augen sitzen im Kopf, das heißt: Der Kopf ist beim Sehen beteiligt. Auch die Ohren. Fernsehen besteht aus Bild und Ton, ist auch ein Wortmedium, ein Gesprächsforum. Veränderungen beginnen im Kopf durch Wissen, Denken und gemeinsames Sprechen: "Wer mehr weiß, kann mehr bewegen", wirbt derzeit der Brockhaus zu seinem 200jährigen Jubiläum. Und Deutschland muß sich bewegen: Wo wirtschaftlich und sozial nichts mehr zu bewegen ist, muß menschlich, gemeinschaftlich mehr bewegt werden.
Schon Rousseau sprach von der "volonté generale" als Gemeinsinn. Gemeint ist damit mehr als die Summe aller Privatinteressen. Wenn die Gesellschaft ein gewaltiger Organismus ist, muß die "soziale Ader" in jedem ihrer Organe schlagen. Wo bislang auf den Titelseiten der Magazine noch von "Ego-Gesellschaft" und "Ich-AG" die Rede war, titelt das neue Geo-Heft vom Dezember: "Abkehr vom Egoismus. Wie Gemeinsinn und Nächstenliebe neu entdeckt werden". Und Geo gibt Beispiele einer neu erwachenden Bürger- und Zivilgesellschaft unter dem Motto: "Gemeinsinn kostet nichts - außer guten Willen". Von neuen sozialen Brückenschlägen ist die Rede: Gemeinsinn und Gemeinwille als Kitt zwischen bröckelnden Gesellschaftsschichten. Modern ausgedrückt: "bridging social capital"- der menschliche Brückenschlag als "soziales Kapital", als Sozialtugend; jeder einzelne Bürger ein Brückenbauer, ein "Pontifex"; und das Medium mit seiner Breitenwirkung und Wirkmächtigkeit eine Art "Pontifex Maximus".
Fernsehen, so verstanden, wirkt nicht nur auf Auge und Ohr; es appelliert vor allem auch an den elementaren, quasi "siebten Sinn": unseren Gemeinsinn. Wir sitzen in der globalen Welt nicht nur alle im gleichen Boot, sondern im "global village" auch gemeinsam am gleichen Tisch. Wir haben uns an Titelzeilen und Schlagwörter solcher Gemeinschaftlichkeit rhetorisch bereits gewöhnt: "Wir sind Weltmeister", "Wir sind Papst" und jüngst "Wir sind Kanzlerin". Hinzugekommen ist die Motivationskampagne "Du bist Deutschland".
Nunmehr kommt es darauf an, solche Rhetorik auch in gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Wir alle können dem Langzeitpatienten Deutschland helfen. Wie den Fall der drogensüchtigen Tanja müssen wir auch den "Fall Deutschland" quasi in einer Langzeit-Dokumentation und mit einem Langzeit-Engagement medial begleiten. Deutschland ist, was wir gemeinsam daraus machen.