Sehr geehrte Damen und Herren,
droht die soziale Eiszeit?
So fragte die ZEIT auf der Titelseite vor wenigen Wochen und verpasste einem sichtlich verkühlten Bundesadler eine Chapka mit rotem Schal und grünen Fransen.
Im Rausch der Reformvorschläge, die zu einer wie auch immer gearteten Neuausrichtung der Sozialpolitik in Deutschland führen sollen, hat diese Frage einen für viele beängstigenden Beiklang.
Was sind die sozialen Grundlagen und Werte einer reformierten Gesellschaft, wenn nichts mehr so bleibt, wie es ist?
Findet tatsächlich der Ausverkauf des Sozialstaats statt, oder stehen wir vor einen Reformprozess in sämtlichen Bereichen unserer Gesellschaft, der dann zu einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit führt?
Klappern wir Deutschen, verwöhnt in Wirtschaftswunderjahren, ängstlich mit den Zähnen, deren künstliche Nachfolger im Mund wir demnächst nicht mehr bezahlen können?
Wie auch immer - sozialpolitische Themen stehen seit einigen Monaten ganz oben auf der Agenda: Ob Rentenreform, Neuordnung des Arbeitsmarktes, Umbau der Sozialsysteme – selten fand im Licht der Öffentlichkeit eine so intensive Debatte über soziale Reformen statt.
Das ist beachtlich und zeigt, wie wichtig das Thema ist.
Nahezu täglich entstehen neue Schlagworte, die der Reformdebatte neue Impulse geben sollen: Kopfpauschale, Bürgerversicherung, Rentenkonzept. ...
Die saloppe Formulierung des Kabarettisten Richard Rogler, er sei unsicher, ob er zunächst Hartz I oder II begreifen solle, um der Reformdebatte folgen zu können, oder ob er lieber noch ein Viertel Jahr warten solle, bis Hartz V oder Hartz VI komme, hat einen ernsten Hintergrund.
In Anlehnung an den bekannten und mittlerweile in vielen Abwandlungen persiflierten Werbespruch eines schwedischen Möbelkonzerns füge ich hinzu: Liest du noch, oder verstehst du schon?"
Im Geflecht offenkundig unausgereifter Vorschläge zur Reform unseres sozialen Lebens verlieren wir allzu leicht den Überblick, anstatt gedanklich folgen und in Abwägung der Argumente eine begründete und nachvollziehbare Position beziehen zu können.
Michael Ende hat in seinem Buch "Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth" den aussichtslosen Versuch beschrieben, in einem verwahrlosten Haus Ordnung herzustellen. Er folgert: "Das Chaos wächst nur mit jedem Versuch, es zu bezwingen. Das beste wäre, sich still zu halten und gar nichts mehr zu tun."
Dazu neigen viele, die sich überfordert fühlen vom kakophonischenWortgeklingel in der öffentlichen Debatte.
Daraus möchte ich zwei Punkte hervorheben:
- die Verantwortung des Einzelnen bei der Reform des Sozialstaats,
- unsere Rolle, die Rolle des Journalismus bei der Vermittlung und Bewertung sozialer Wirklichkeit,
- Die Verantwortung des Einzelnen bei der Reform des Sozialstaats
Zunehmend gewinne ich den Eindruck, dass in Zeiten von Rezession und wirtschaftlicher Stagnation – wie wir sie nun erleben - eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche stattfindet.
Das heißt: Unsere Aktivitäten orientieren sich vermehrt an wirtschaftlichen Kriterien: Rentabilität, Leistungsorientierung, Effizienz, finanzieller Gewinn. Die Maxime, ökonomisch bringt mir das nichts, verweist auf die Kehrseite einer aus dem Ruder laufenden Reformdebatte:
·Uns allen geht es schlechter.
·Jetzt muss ich mich erst mal um mich kümmern.
·Ich muss sehen, wo ich bleibe und was für mich dabei herausspringt.
Bis ins Private hinein, bis in die Partnerbeziehung stellt sich die Frage: Was bringt mir das?
Bringt er's noch – bringt er's gleich – oder bringt er nix - dann bring' ich es am besten schnell hinter mich. Und ihn auch.
Ist es eigentlich "unsexy", mindestens uncool, anderen zu helfen, sich für Schwächere, für Kranke, für Ausgegrenzte einzusetzen?
Vor kurzem saß ich in einer Runde von Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, die eintreten für Schwache und Hilflose.
Nicht wenige dieser Helfer fanden, das Wort Ehrenamt müsse dringend verschwinden. Es klinge muffig, gestrig und spießig. Schade eigentlich.
Das, was honoris causa statt honoraris causa geleistet wird, braucht nun auch schon ein neues flottes Wortwintermäntelchen. Es zittert und friert im Zugwind der Moderne.
Ob das Ehrenamt am Ende, ausgeübt von der Ich-AG, zur Du-AG mutiert? Come in and find out, sagt die Parfümeriekette.
Ganz gleich, wie dieses Engagement künftig heißt – Freiwilligenarbeit oder bürgerschaftliches Tun –, es gehört in die Mitte der Gesellschaft. Also in unsere Mitte.
Es ist ja gar nicht wahr, dass ehrenamtliches Engagement verschwindet. Es fehlt lediglich der dauerhafte Bindungswille an Organisationen, an Vereine, an Parteien, an Kirchen.
Aber es steigt der punktuelle, der temporäre Einsatz für eine als richtig oder wichtig erkannte Sache.
Neue soziale Netzwerke entstehen. Dabei übernehmen Bürgeragenturen mit eigener Verfassung verantwortungsvolle Aufgaben.
Dabei spielt das Prinzip der Freiwilligkeit eine große Rolle.
Je weiter die Maschen des sozialen Netzes werden, desto wichtiger ist es, das bürgerschaftliche Engagement zu stärken.
Und dabei eben nicht die muffigen Uralt-Debatten vom "Reparaturbetrieb des Kapitalismus" zu wiederholen.
Stimmt schon: Der Staat wird in der Zeit, die wir zu überblicken vermögen, immer weniger für den Einzelnen leisten können. Subsidiarität ist also gefragt, und, Verzeihung, furchtbar-altmodisches Wort, Solidarität. Beides fällt nicht vom Himmel.
2) Die Rolle des Journalismus bei der Vermittlung und Bewertung sozialer Wirklichkeit
Dass die Rolle der Medien und des Journalismus bei der Vermittlung und der Bewertung sozialer Wirklichkeit von ganz besonderer Bedeutung ist, versteht sich fast von selbst. Aber: eben nur fast!
Warum?
Die sich auf vielen Hinterbühnen und einer Hauptbühne abspielende Debatte um die nahezu alle Lebensbereiche umfassende Reform des Sozialstaats wird von den immer gleichen mit nie erlahmender Vehemenz geführt. Diese kundigen, wissenden Spezialisten unterliegen dem Irrtum, das pp. Publikum verstehe, wovon die Rede ist.
Mitnichten! Das muss den Fachleuten jeder Couleur klar sein. Fortwährend.
Es wirkt oft so, als seien wir Augen- und Ohrenzeugen einer Inszenierung, die den Eindruck vermittelt, der Regisseur habe bereits vor einiger Zeit seinen Platz verlassen, und die verbliebenen Akteure besetzten die Bühne.
Was sich indessen im toten Winkel der TV-Kameras hinter verschlossenen Türen abspielt, wissen wir nicht, wir ahnen es: Ernsthafte, jedes Argument abwägende Diskussionen.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer oft marktschreierischen Inszenierung von Reformpolitik und dem ernsthaften Bestreben, Politik verantwortungsvoll und nachhaltig zu betreiben, durchzieht alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens.
Otto Normalverbraucher und Dr. Lieschen Müller sind eben überfordert und erschlagen von Hartz 1, Arbeitslosengeld 2, Rürup 3 und Herzog 4.
Hier komme ich – wie angekündigt – auf die Rolle der Medien zu sprechen.
Die Demoskopie – das goldene Kalb vieler Politiker und Journalisten – zeigt: Es gibt einen katastrophalen Verlust des Vertrauens in die politisch Handelnden. Dazu tragen wir Journalisten – ich sage bewusst: wir Journalisten bei.
Indem wir uns als terribles simplificateurs gerieren, als schreckliche Vereinfacher in einem Moment, in dem Politiker streiten, argumentieren, Modelle gegeneinander setzen, Berechnungsgrundlagen anzweifeln, heilige Kühe schlachten wollen – in diesem Moment werfen wir ihnen Gerede vor. In diesem Moment bläst die Zeitung mit den dicken Schlagzeilen zur Bla-Bla-Aktion: In Comic-Sprechblasen dürfen wir Leser Politiker-Bla-Bla-Texte einfügen.
Ich finde das ungerecht und im Ergebnis kontraproduktiv.
Schon wahr, dass es zu viel Hüh und Hott in der Politik gibt, zu wenig zu Ende Gedachtes, zu viele Schnellschüsse. Aber wir Journalisten werden es schaffen, nach der von uns geschürten Politikerverdrossenheit noch eine große Medienverdrossenheit zu erleben:
Wer schneidet denn seinem Gegenüber nach 30 Sekunden das Wort ab? Wer will den Rentenreformvorschlag in zwei Hauptsätzen erklärt haben? Und wer wird unruhig, wenn der Unterschied zwischen a) und b) zur Debatte steht?
Ich plädiere doch nur ganz bescheiden dafür, dass wir Journalisten, die Politiker unterstützen beim lauten und oft unbequemen Nachdenken darüber, wie es weiter gehen soll.
Das ist kein Plädoyer für platten Populismus. Auch nicht für Volksopium à la Naddelveronadieterundsuperstar.
Es ist die altmodische Vorstellung eines Journalismus, der für eine zukunftsfähige Gesellschaft streitet. Mit nüchternen Argumenten, mit Einfühlsamkeit, mit Gefühl für Sprache und Form. Mit Augenmaß und Kritik, die nicht zur Pöbelei verkommt.
Was wüssten wir über uns und unsere Gesellschaft, wenn es nicht immer wieder Journalisten gäbe, die sich mit Herz undVerstand, Themen widmen, die ansonsten keiner will, und die in Redaktionskonferenzen zunächst einmal lebhaftes Gähnen provozieren.
Steffi Kammerer, eine der Preisträgerinnen, hat so ein Alltagswagnis unternommen. Sie hat Tagebuch ihrer Erlebnisse im Altenheim geführt. Ich könnte mir vorstellen, wie eine ganz normale Redaktion auf eine solche Idee reagieren könnte:
"Doch nicht schon wieder Altenheim. Wer will das denn lesen? Das riecht nach Pflegenotstand, nach schlecht gelüfteten Zimmern und Elend."
Steffi Kammerer hat keinen Skandal aufgedeckt. Ich kenne mich aus in Altenheimen. Der Skandal besteht daraus, dass der Alltag dort so ist wie ihn die Journalistin beschreibt. Unspektakulär. Traurig und grausam.
Altenheime sind Vorhöllen. Und wir alle sind schuld daran, dass es so ist. Wir bezahlen Pflegekräfte miserabel. Wir führen via Pflegeversicherung bürokratische Hemmnisse ein. Wir besuchen unsere Angehörigen zu selten.
Wir denken, wir seien in unserem durchgeplanten Alltag so wichtig, dass uns nicht zwei Wochenstunden bleiben, die wir ehrenamtlich - da ist es wieder, das altmodische Wort – alten Menschen geben könnten. Auf all‘ das weist Steffi Kammerer hin – ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Wenn wir ihr und den anderen Preisträgern zuhören, wissen wir, worauf es ankommen könnte in dieser viel beschworenen Bürgergesellschaft.
Sie, die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege leisten in diesem Bereich unersetzliche Arbeit. Lassen Sie nicht nach im Kampf um menschliche Nähe und Würde. Das darf nicht untergehen – bei aller Reformnotwendigkeit und bei mancher Reformwut. Unter den von mir skizzierten Bedingungen wird Ihr Preis, der Deutsche Sozialpreis, künftig eher noch wichtiger werden.