Auch wenn der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff faktisch gesehen zunächst nur eine Neudefinition der Zugangsberechtigung zu den Leistungen der Pflegeversicherung ist, wird durch dessen Umsetzung dennoch auch ein Paradigmawechsel eingeleitet: Grundlage der Einstufung der Pflegebedürftigkeit ist zukünftig der Grad der Selbstständigkeit und nicht mehr die an Defiziten orientierte Dauer bestimmter Verrichtungen. Darüber hinaus werden Einschränkungen der Selbstständigkeit durch kognitive oder psychische Problemlagen künftig gleichberechtigt neben somatisch bedingten Einschränkungen bei der Begutachtung berücksichtigt.
Insgesamt lässt sich der durch den neuen Pflegebegriff intendierten Paradigmawechsel auf folgende drei Punkte zusammenfassen:
1. Im Fokus der Pflege steht die Förderung der Selbstständigkeit der pflegebedürftigen Menschen.
2. Dabei zählen maßgeblich der Wille und die Selbstbestimmung der Betroffenen.
3. Dies macht eine Stärkung der Fachlichkeit vor Ort notwendig.
Daraus folgt, dass die pflegerischen Konzepte, die Rahmenverträge, die Leistungen, die Vergütungsstrukturen und -vereinbarungen und alles andere inhaltlich diesem Paradigmawechsel folgen und daran angepasst werden müssen.
Dies wird begleitet von weiteren Entwicklungen in der Pflege, die diesen Paradigmawechsel ebenfalls unterstützen:
§ die Umsetzung des neuen Strukturmodells der Pflegedokumentation,
§ die Umstellung der Qualitätsberichterstattung und -darstellung auf indikatorengestützte Verfahren mit den Fokus auf Ergebnisqualität und
§ die Entwicklung eines Instruments zur Personalbemessung nach §113c SGB XI.
Da ein Paradigmawechsel nicht von heute auf morgen vollzogen werden kann, sondern vielmehr Zeit bei der Umsetzung benötigt, bedarf es einer mehrstufigen Strategie. Für die Verhandlung von Rahmenverträgen auf Landesebene bedeutet dies 2016 und 2017 die Weichen für eine Umstellung zu legen und keine Wege für die mittel- bis längerfristige Umsetzung zu verbauen. Daher gibt der Fachausschuss Altenhilfe der BAGFW die folgenden Empfehlungen für die Rahmenvertragsverhandlungen und weitere Vereinbarungen auf Landesebene ab:
Empfehlungen für die Vertragsgestaltung
§ Erläutern Sie in der Präambel oder den Grundsätzen des Vertrags oder der Vereinbarungen dessen Prinzipien, Intentionen und Aufgaben.
§ Verankern Sie in der Präambel oder den Grundsätzen die zentralen Elemente des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Die Förderung der Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Menschen und die Stärkung der Fachlichkeit der Pflegenden.
§ Überprüfen Sie alle zentralen Begriffe auf die Notwendigkeit einer redaktionellen Anpassung an die Begrifflichkeiten des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
§ Ersetzen Sie den Verrichtungsbezug durch einen problemlösungsorientierten Ansatz, den Verrichtungsbegriff durch den neuen Terminus „Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit“ und Maßnahmen durch Aufgaben.
§ Vereinbaren Sie keine Ziele im Sinne von Versorgungs- oder Pflegeergebnissen in den Verträgen und nichts zur Wirksamkeit der Pflegeleistungen. Dies ist ein Relikt aus alten Tagen und ist heute aber über die Vereinbarungen nach den §§ 113ff. SGB XI bundeseinheitlich geregelt.
§ Treffen Sie keine Vereinbarungen mehr zu Inhalten der Pflegeberatung nach § 37 SGB XI, die künftig (ab 2018) einheitlich über Bundesempfehlungen geregelt werden.
§ Vereinbaren Sie Leistungserweiterungen, die dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff folgen. Dies sind neben pflegerischen Betreuungsmaßnahmen und Hilfe zur Haushaltsführung insbesondere:
- Beratung und Edukation,
- Erst- und Folgegespräche,
- Prävention,
- prozesssteuernde Interventionen,
- alltagsbezogene Unterstützung sowie
- Interventionen bei kognitiven und psychischen Problemlagen.
§ Überlegen Sie auch, wie und wo Sie das Thema „pflegefachliche Anleitung“ am besten in den Leistungen verorten können.
§ Überprüfen Sie die Aufgaben der Pflege. Eine Stärkung der Fachlichkeit beinhaltet perspektivisch auch eine Änderung bzw. Erweiterung des pflegerischen Aufgabenspektrums.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff impliziert mit seinen Prämissen eine Verlagerung der Entscheidung zu konkreten Leistungsinhalten auf den Aushandlungsprozess vor Ort, zwischen Pflegeeinrichtungen und –diensten bzw. deren Pflegefachkräften und Pflegebedürftigen, statt pauschalen und zentralen Vorgaben durch die Pflegekassen. Von daher:
§ sollten keine detaillierten Leistungsbeschreibungen in den Rahmenverträgen erfolgen.
§ passen Leistungsmodule oder -einheiten im Sinne von Zeit- oder Sachleistungsbudgets besser zur Idee des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
§ sollten Sie im Sinne der Weichenstellung erste Zeitvergütungen (probeweise) vereinbaren, vorzugshalber für neu zu vereinbarende Leistungen (s. o.) und
§ versuchen im Vorgriff auf eine Neugestaltung von Leistungen, bestehende Leistungen entlang der Leistungsarten und Module des NBA zu gruppieren.
Da eine vollständige Umsetzung der Prämissen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs Zeit benötigt, halten Sie dies in den Rahmenverträgen entsprechend fest und vereinbaren Sie einen Stufenplan zur Umsetzung sowie Revisionsklauseln. Als nächste Stufe bietet sich spätestens das Jahr 2020 an, wenn die Ergebnisse bzgl. der Entwicklung von Personalbemessungsinstrumenten nach §113c SGB XI vorliegen.