Im November 2008 hat die BAGüS die vorläufige Orientierungshilfe zur Abgrenzung der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zu anderen Leistungen (Stand 25.11.2008) vorgelegt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) möchte einige Hinweise zur Orientierungshilfe geben, verbunden mit der Bitte, diese im weiteren Diskussionsprozess zu berücksichtigen.
Die BAGFW teilt die Auffassung der BAGüS, dass die Orientierungshilfe den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Sozialverwaltungen eine Hilfestellung und Orientierung für Ihre Arbeit bieten kann. Die Ausführungen der Vorlage sind detailliert und ausführlich und berücksichtigen wesentliche z. Z. bestehende leistungsrechtliche Schnittstellen, die sich nicht nur auf die Eingliederungshilfe, sondern auch auf andere Sozialleistungen beziehen. Als Beispiel sind hier die Ausführungen im Punkt XI.3 „Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ zu nennen, die besonders positiv bewertet werden, da es qualitativ und quantitativ wenig vergleichbare Ausführungen zu diesem Thema gibt. Gleichwohl möchten wir darauf aufmerksam machen, dass es sich hierbei um verwaltungsinterne Handlungsempfehlungen mit orientierendem Charakter handelt.
Neben dieser positiven Einschätzung möchten wir jedoch anmerken, dass die UN-Behindertenrechtskonvention seit März 2009 für Deutschland verbindlich ist. Aus diesem Grund schlagen wir vor, insbesondere bei den benannten Grundsätzen zur Eingliederungshilfe auch den Bezug zur UN-Behindertenrechtskonvention bei der weiteren Bearbeitung der Orientierungshilfe herzustellen und somit die erforderliche Neuausrichtung in Folge der ratifizierten UN- Behindertenrechtskonvention hinsichtlich der Zielstellungen und Inhalte der Konvention in die Praxis der Sozialverwaltungen zu transportieren.
Für besonders problematisch halten wir die Darstellungen zur Abgrenzung der Eingliederungshilfe zu den Hilfen zur Pflege. Eine integrierte Erbringung von Leistungen der Pflege ist für Menschen mit Behinderungen, die einen pflegerischen Bedarf haben, auch bei unterschiedlicher leistungsrechtlicher Zuständigkeit sicherzustellen und der Vorrang der Zielstellungen der Eingliederungshilfe umzusetzen.
Insbesondere möchten wir zu folgenden Themen weiterführend anmerken:
Eingliederungshilfe und Pflege
Bei den Ausführungen zur Abgrenzung zu den Leistungen der Pflege sind zunächst Unklarheiten hinsichtlich der Hilfearten bzw. deren leistungsrechtlichen Grundlagen festzustellen. So ist die im Text an mehreren Stellen erwähnte „Hilfe zur Pflege“ dahingehend zu präzisieren, ob es sich um Leistungen gem. § 61 SGB XII ff oder um Leistungen gem. SGB XI handelt, z. B. in der Kapitelüberschrift X „Abgrenzung zur Pflegeversicherung“.
Zudem sind die Ausführungen widersprüchlich: Einerseits wird erfreulicherweise auf die im § 53 SGB XII festgelegten Aufgaben und Ziele der Eingliederungshilfe Bezug genommen, andererseits werden bei freier Interpretation des Gesetzestextes Setzungen vorgenommen, die nicht dem § 53 SGB XII entsprechen. Z. B. sollen entsprechend der Orientierungshilfe Leistungen der Eingliederungshilfe nicht gewährt werden, wenn
· eine fehlende Erfolgsaussicht feststeht,
· die Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht im Vordergrund steht,
· aufgrund jahrelanger Eingliederungsmaßnahmen bei der Unterstützung, Übernahme und Anleitung pflegerischer Verrichtungen die Ziele der Eingliederungshilfe nicht mehr erreichbar sind und
· aufgrund der allgemeinen Lebensumstände keine weitergehenden Ziele mehr verfolgt werden, als sie mit Maßnahmen der aktivierenden Pflege auch erreicht werden können.
Weiterhin wird konstatiert, dass dem Lebensalter „eine gewisse indizielle Bedeutung“ zukäme. Das bedeutet, dass allein auf Grund des Alters einer Person die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen in Frage gestellt wird.
Nach Einschätzung der BAGFW erklären und bestätigen diese Empfehlungen die in den letzten Jahren sich häufenden Klagen von pflegebedürftigen und behinderten Menschen über eine zunehmend restriktive Bewilligungspraxis der Sozialhilfeträger in Verbindung mit einer steigenden Tendenz, diese auf Einrichtungen mit einem Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI zu verweisen und ihnen die Eingliederungshilfe und Pflege als gleichwertige Leistungen zu verwehren. Darüber hinaus sieht die BAGFW die Notwendigkeit, diese Leistungen personenzentriert, aufeinander abgestimmt, miteinander vernetzt und diskriminierungsfrei zugänglich zu erbringen.
Das von Seiten der Leistungsträger oftmals herangezogene theoretische Konstrukt in Bezug darauf, ob bei einem Menschen „die Teilhabe“ oder „die Pflege“ im Vordergrund steht, entspricht nicht den Regelungen des § 53 SGB XII und wird abgelehnt. Das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (und auf Eingliederungshilfe) ist weder von Art und Schwere der Behinderung, noch vom Lebensalter oder vom Umfang des Pflegebedarfs abhängig. Pflege dient auch dazu, Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Darüber hinaus steht eine solche Sichtweise im Widerspruch zu dem in der UN-Konvention und in der ICF beschriebenen dynamischen Behinderungsbegriff.
Die BAGFW nimmt diese Entwicklung mit großer Sorge wahr und lehnt die
oben beschriebene Einschränkung von Leistungsansprüchen ab, weil Pflegeleistungen integraler Bestandteil und Voraussetzung für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sind. Dies gilt insbesondere für alt gewordene Menschen mit Behinderungen und Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.
Zudem widerspricht dies dem postulierten Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Hier wird unseres Erachtens § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII falsch interpretiert. In dieser Rechtsnorm ist keinesfalls der Nachranggrundsatz der Sozialhilfe abschließend geregelt, sondern es werden exemplarisch – „insbesondere“ – einige unterstützende Leistungen aufgeführt. Der Leistungsberechtigte hat darüber hinaus ggf. auch einen Anspruch auf andere Unterstützungsleistungen nach dem SGB XII. Das ergibt sich aus dem Wort "neben" und dem Wort "insbesondere" in § 54 Absatz 1 Satz 1 SGB XII, was bedeutet, der Grundsatz der Nachrangigkeit kann nur dort gelten, wo ein Mensch mit Behinderung eine konkrete Leistung nach dem SGB II oder SGB III erhält (§ 2 SGB XII). Gibt es daneben eine in Betracht kommende Leistung, die nicht den Leistungskatalogen der aufgeführten Gesetze entspricht, aber geeignet ist, die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe (vgl. § 53 Absatz SGB XII) zu erfüllen, hat der behinderte Mensch einen Anspruch auf Erfüllung dieser Leistung durch den SGB XII-Träger.
Die Ausführungen im Punkt VII.3, S. 25 vorletzter Absatz werden abgelehnt. Auch bei festgestellter Erwerbsfähigkeit kann bei einer Person gleichzeitig eine sog. wesentliche Behinderung vorliegen. Daraus folgt, dass bei entsprechendem individuellem Bedarf einer Person mit Behinderung z. B. in den Lebensbereichen Wohnen, Freizeit oder Bildung parallel zu dem gewährten Leistungen nach SGB II/III durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) auch Leistungen nach SGB XII durch den Träger der Sozialhilfe zu gewähren sind.
Ferner fehlen Darstellungen zu den in 2009 neu hinzugekommenen Leistungen der Unterstützten Beschäftigung.
Die Sozialhilfeträger haben neben Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bei entsprechendem individuellem Bedarf Leistungen im Bereich der sozialen Teilhabe nach SGB XII sicherzustellen.
Bei der Überarbeitung der Orientierungshilfe sollten Darstellungen zu den Leistungen der Unterstützten Beschäftigung aufgenommen werden.
Soziotherapie und RPK
Bei den Leistungen der Soziotherapie und der Eingliederungshilfe für psychisch kranke Menschen kann es in einzelnen Bereichen zu Parallelitäten kommen. Die Formulierungen in Punkt III.5.2 sind missverständlich und führen zur Fehlinterpretation, dass zuerst die Soziotherapie zu gewähren ist und im Anschluss daran Leistungen der Eingliederungshilfe greifen. Die Zielstellungen beider Leistungen sind jedoch unterschiedlich und nicht vergleichbar.
Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege nach dem SGB V sind neben den Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53/54 SGB XII zu gewähren.
Soziale Rehabilitation in der Nachbetreuung regulär entlassener Suchtkranker
Nachbetreuung nach erfolgreich abgeschlossener medizinischer Rehabilitationsbehandlung Suchtkranker ist ein wichtiger Faktor für die Sicherung der Abstinenzfähigkeit. Die „Adaptionsbehandlung“ als zweite Phase der medizinischen Rehabilitation steht in fachlich-medizinischer Hinsicht in ärztlicher Verantwortung und ist Teil der Reha-Maßnahme. Zu diesem Punkt besteht Konsens zu den Ausführungen in der Vorläufigen Orientierungshilfe (Kap. VII.4 Abgrenzung zu Leistungen nach dem SGB V).
Adaptionsmaßnahmen und Nachbetreuung haben jedoch auch die Funktion einer sozialen Wiedereingliederung und beruflichen Orientierung. Bei der „sozialen Rehabilitation“ steht das Training lebenspraktischer Fähigkeiten, die Wiederaufnahme eines aktiven Freizeitverhaltens, häufig der Aufbau eines neuen Lebensmittelpunktes mit tragfähigen sozialen Kontakten und anderes mehr im Vordergrund. Hierbei handelt es sich um Teilhabeleistungen nach § 55 SGB IX bzw. § 54 SGB XII. Es ist abzulehnen, dass die in § 54 SGB XII aufgelisteten Leistungen für den Personenkreis der regulär Entlassenen aus einer Suchttherapie auf den Bereich der Freizeitgestaltung reduziert werden (vgl. Kapitel VII.4, S. 26)
Leistungen der Eingliederungshilfe sind auch für Suchtkranke, die sich nach regulärer Entlassung aus medizinischer Rehabilitationsbehandlung in der Adaptionsphase und Nachbetreuung befinden, in vollem Umfang zu gewähren. Die Leistungen dürfen nicht auf den Freizeitbereich reduziert werden, sondern haben sich am individuellen Hilfebedarf hinsichtlich der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu orientieren.
Schulische Integration
Mit Blick auf die seit März 2009 für Deutschland verbindliche UN-Behinderten-rechtskonvention halten wir die Ausführungen hinsichtlich des Rechtsanspruchs auf die Wahl der Schulform im Punkt V.1.3 für überdenkenswert. Landesregelungen und deren künftige Anpassung haben eine wesentliche Bedeutung.
Entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention sollte die inklusive Bildung bei den Ausführungen in der Orientierungshilfe Berücksichtigung finden und somit zur Umsetzung beitragen.
Frühförderung
Mit Datum vom 24.06.2009 haben die Staatssekretäre des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Soziales in einem Rundschreiben an den GKV-Spitzenverband, den Deutschen Städtetag und den Deutschen Landkreistag Umsetzungsfragen zur Komplexleistung Frühförderung konkretisiert. Wesentliche Punkte betreffen die Definition der Komplexleistung Frühförderung, Beratung, die mobile Frühförderung, Heilmittel, Kostenteilung, Personenkreis, Kooperation zwischen Interdisziplinären Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren.
Wir schlagen vor, das Rundschreiben als Anlage bzw. einen Verweis auf dieses in die Orientierungshilfe aufzunehmen.
Persönliches Budget
Bei den Darstellungen zum Persönlichen Budget werden die Rechtslage vor dem 01.01.2008 und der Bezug zum § 17 Abs. 1 Satz 1 hinsichtlich der Kann-Formulierung dargestellt. Diese Formulierung steht seit dem 01.01.2009 im Zusammenhang mit § 159 Abs. 5 SGB IX und ist somit überholt.
Die aktuelle Rechtslage entsprechend § 159 Abs. 5 SGB IX ist aufzunehmen.